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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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konnte, wer es denn zuvor geöffnet oder ob es sich bloß losgerissen hatte, war sie schon wieder eingeschlafen.

3.   KAPITEL
    MITTWOCH, DEN 7.   OKTOBER, VORMITTAGS
    Als Rosina erwachte, war das zweite Bett in ihrer Kammer leer. Schon auf der Treppe hörte sie Lorettas munter plaudernde Stimme und fand in der Küche ein Bild ungewohnter neuer Eintracht. Die Krögerin saß auf einem Schemel am Tisch nahe dem Fenster, eine Hand fest um einen Milchbecher, die andere in Lorettas Hand. Ein blasser Sonnenstrahl fiel durch das Fenster direkt auf die beiden Köpfe, den roten, nur flüchtig frisierten und den graublonden unter der adrett weißen Haube. Sie beachteten Rosina nicht, sie waren viel zu vertieft in die Zukunft der Wirtin, der Loretta aus der Hand las.
    «Und dann», sagte sie gerade, «gebt gut acht auf Euer Vermögen. Auch wenn ein Herr noch so stattlich und sein Garten noch so groß ist, wenn seine Worte noch so süß klingen, eine vernünftige Frau bleibt immer mißtrauisch und achtet auf einen guten Ehevertrag.»
    «Ehevertrag!» Die Krögerin kicherte. «Woran Ihr nur denkt.»
    Rosina kannte die Krögerin schon seit einigen Jahren, immer wenn sie mit der Beckerschen Gesellschaft in Hamburg gewesen war, hatten sie bei ihr Zimmer gemietet, aber sie hatte sie noch nie auf diese Weise kichern gehört.
    Sie sah die beiden Frauen, von denen die eine die anderenoch vor wenigen Stunden vor die Tür setzen wollte, und mußte Loretta bewundern. Welche Rolle sie diesmal auch eingesetzt haben mochte, sie war ein großer Erfolg. Die Krögerin tätschelte Lorettas Hand wie die einer vertrauten Freundin, füllte frische Milch in ihre Becher und betrachtete noch einmal die Linien in ihrer molligen Hand.
    «Wie klug Ihr darin zu lesen wißt», seufzte sie. «Ihr versteht Euch auf die menschliche Seele, man merkt doch gleich, daß Ihr eine Französin seid.»
    «Merci.» Loretta neigte bescheiden den Kopf. «Doch es liegt an Euren Händen, sie sind ungewöhnlich beredt.»
    So ging es eine Weile artig hin und her, und Rosina, die darauf brannte, sich für ihr plötzliches Einschlafen zu entschuldigen, vor allem aber noch viele Fragen stellen wollte, kaute unruhig an einer dicken Scheibe Roggenbrot. Natürlich war sie froh, daß es Loretta gelungen war, die Krögerin versöhnlich zu stimmen, aber mußte sie dazu ausgerechnet ein so trügerisches Mittel wie das Handlesen wählen? Sie hoffte, daß Loretta die Erfüllung ihrer Weissagungen recht weit in die Zukunft verlegt hatte.
    Wenig später machten die beiden sich auf den Weg zum Theater. Der Morgensturm hatte die letzten Wolken davongefegt, in den Straßen versickerte schon das Wasser, und die Sonne schien so warm, als stünde der Winter noch lange nicht bevor.
    «Wo hast du das gelernt? Auch bei Philippe?»
    «Was? Das Handlesen? Das kannst du auch, du brauchst nur ein wenig Phantasie, und was Madame Kröger sich wünscht, ist nicht schwer herauszubekommen. Was denkst du? Ich lese auf deiner Stirn das Wort Betrug.»
    «Das ist ein starkes Wort», sagte Rosina und erinnerte sich daran, wie die alte Lies der Krögerin früher aus demKaffeesatz gelesen hatte. Aber bei Lies war sie immer sicher gewesen, daß ihre seltsame Deuterei ein ernstes Geschäft war. Loretta schien nichts ernst zu sein. Außer ihre Lust am Spiel.
    «Betrug! Was sagte doch Chevalier Riccaud de la Marliniere, du weißt schon, der nicht ganz ehrenwerte, aber doch äußerst charmante französische Graf in Monsieur Lessings neuem Stück?
Corriger la fortune
, sagte er zu dem, was du Betrug nennst. Das hat mir an der ganzen Komödie am besten gefallen. Ich habe dem Glück auch nur ein wenig nachgeholfen. Na und? Alle sind zufrieden, und die Krögerin wird zukünftig schönere Träume und mit mir mehr Geduld haben.»
    Dagegen gab es kein Argument.
    Es war nicht weit bis zum Theater, nur die Fuhlentwiete hinauf, durch die enge AB C-Straße und über den Gänsemarkt. Die Glocke in dem kleinen, hölzernen Turm gegenüber dem Wachhaus am Rande des Marktes schlug gerade zehn. Es gab mehrere dieser seltsamen kleinen Glockentürme in der Neustadt. Solange die neue Michaeliskirche – die alte war vom Blitz getroffen worden und niedergebrannt – noch keinen Turm hatte, zeigten sie den Neustädtern die Zeit und auch Gefahren an.
    Das vordere Tor des Theaters stand weit offen, schon im Vorraum hörten sie Stimmen. Eigentlich war es eine Stimme, die zweite sagte nur hin und wieder Worte wie «gewiß, aber, leider,

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