Lorettas letzter Vorhang
begeistert hatte, erschien ihrnun als Wiederholung des stets Gleichen. In ihrem Kopf entstanden immer häufiger andere Bilder, ihre Hände wollten Gesichter, Landschaften, Allegorien zeichnen, Bilder, wie sie sie im letzten Jahr auf ihrer großen Reise gesehen hatte.
Weil es ihr anders als den Männern natürlich nicht möglich war, auf Wanderschaft zu gehen, um neue Techniken und Muster zu lernen, hatte Schwarzbach sie für einige Wochen zu befreundeten Manufakteuren in England geschickt, damit sie ihre Fähigkeiten und ihr Wissen erweiterte. Diese Reise, die erste in ihrem Leben, hatte sie als ein geradezu berauschendes Glück empfunden. Inzwischen war sie nicht mehr so sicher. Sie hatte viel gelernt, aber sie hatte auch ihre Ruhe und Zufriedenheit verloren, denn es waren nicht nur Kattunmuster, die sie dort gesehen hatte, sondern auch die Werke großer Maler, die in England, besonders in London, anders als in Hamburg hoch geehrt wurden. Und dann, nur zwei Wochen vor ihrer Heimreise, war eine junge Dame, bezaubernd schön und von erlesener Eleganz, nahe dem Golden Square in ihrer Kutsche an ihr vorbeigefahren. Die Leute hatten sich neugierig nach ihr umgesehen und gesagt, Miss Kauffmann, so hieß die Dame, sei eine Malerin, eine Schweizerin, die in London schon fast berühmter sei als Mr. Reynolds. Sie lebe in einer wahrhaft fürstlichen Residenz und denke nicht daran, nur Porträts zu malen, wie es sich für eine Dame gehöre. Nein, sie male alles, wonach ihr der Sinn stehe, und neuerdings sogar Deckengemälde für Mr. Adams, den berühmtesten Baumeister des Landes.
Sie male alles, wonach ihr der Sinn stehe. Das war nun in Fredas Kopf eingebrannt, und je länger das Echo dieser Worte in ihr lebte, um so vermessener wurden ihre Wünsche, um so größer und vielfältiger wurden die Bilder, diesie malen wollte. Bilder, die sich allerdings gewiß nicht für den Kattun eigneten. Sie wußte nicht, wie, aber sie würde, sie mußte einen Weg finden, diese Bilder irgendwann zu malen. Auch wenn sie nicht wie Miss Kauffmann einen Maler als Vater und stolzen Förderer hatte.
Sie verscheuchte die Gedanken an Miss Kauffmann und eine bessere Zukunft und blieb vor dem Kontor stehen. Durch die Scheibe der Kontortür sah sie Schwarzbach am Fenster stehen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, und zum erstenmal dachte sie, daß er vielleicht einen Weg bot. Wenn sie sich nur überwinden könnte, der Aufforderung seiner Blicke zu folgen. Es war ein hoher Preis, und obwohl sie noch nie von einer Ehefrau gehört hatte, die über das Wohl der Familie hinaus ihre eigenen Pläne hatte oder sie sogar verwirklichte, wollte sie darüber nachdenken.
«Ihr habt mich rufen lassen?»
Er drehte sich um, und sie sah sofort, daß er diesmal nicht nur einen Vorwand gesucht hatte, um mit ihr zu sprechen. Sein Gesicht erinnerte sie an das der Statue des heiligen Ansgar in St. Petri. Ein äußerst kühler, strenger Mann in der Gewißheit des rechten Glaubens.
«Ja. Bitte», er zeigte auf einen Stuhl, mit einem ihrer schönsten Kattunmuster bezogen, «wenn Ihr Euch setzen wollt.»
Er selbst blieb stehen, verschränkte die Hände und sah, nun das sonnenhelle Licht des Fensters im Rücken, auf sie hinab. «Ich will nicht lange Vorreden halten, Freda. Ich habe ein ernstes Problem, und das will ich mit Euch besprechen. Es ist etwas geschehen, und ich hoffe, daß wir eine Lösung finden, die uns allen – wie soll ich sagen? Uns allen zum Vorteil gereichen wird.»
Sie sah ihn aus diesen kühlen grauen Augen an, die alle Schliche zu durchschauen schienen, und, wie so oft in ihrerGegenwart, wurde es ihm unbehaglich. Vielleicht hätte er doch gleich zur Wedde gehen und den Diebstahl anzeigen sollen. Noch vor wenigen Minuten war ihm sein Plan grandios erschienen. Nun war er sich nicht mehr so sicher. Sicher schien ihm allerdings immer noch, daß nicht irgend jemand der mehr als 200 Menschen, die für ihn arbeiteten, sondern niemand außer Lukas, Fredas Bruder, der Dieb sein konnte. Vielleicht war das vermessen, er hatte ja keine Beweise, vielleicht trieben ihn nur seine heimlichen Wünsche in einen fatalen Irrtum. Aber er hatte oft genug von Lukas’ unpassendem Lebenswandel gehört, von seiner Großsprecherei, und letztlich, wer sollte es sonst gewesen sein? Gelegenheit macht Diebe. Und hier war ihm ganz klar, daß nur Lukas um die Gelegenheit gewußt haben konnte. Und daß er sie genutzt hatte. Ob er das mit Fredas Hilfe und Einverständnis
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