Lorettas letzter Vorhang
getan hatte, darüber wollte er nun nicht nachdenken. Das wäre nicht sehr angenehm, eine ungünstige Erschwernis, aber es würde seinen Plan nicht wirklich stören. Wer ein Ziel verfolgte, durfte nicht zimperlich sein.
«Hat Monsieur Klappmeyer seinen Auftrag zurückgezogen? Oder Monsieur Herrmanns?» fragte Freda in seine Gedanken.
«Auftrag? Aber nein, nichts dergleichen. Ihr erinnert Euch doch gewiß: Als Monsieur Herrmanns hier war, habt Ihr das Musterbuch in die Truhe zurückgelegt und sie dann verschlossen.»
Freda nickte. «Und danach gab ich Euch den Schlüssel zurück.»
«Seid Ihr sicher, daß die Truhe wirklich verschlossen war?»
«Natürlich. Ich habe in beiden Schlössern den Schlüssel umgedreht. Allerdings …»
«Allerdings?»
«Nun, das ist etwas, das man, ohne viel darüber nachzudenken, tut. Man dreht einfach einen Schlüssel um. Aber doch», sagte sie nachdenklich, «ich erinnere mich, daß ich es tat. Es war ja erst gestern und das letzte Mal, daß ihr mich die Truhe verschließen ließet. Aber warum fragt ihr danach?»
«Weil heute morgen, als ich in das Kontor kam, zwar der Deckel heruntergeklappt, die Truhe aber nicht verschlossen war.»
«Das verstehe ich nicht. Ich habe den Schlüssel ganz bestimmt in beiden Schlössern herumgedreht. Aber gewiß erinnert Ihr Euch», fuhr sie nach kurzem Zögern fort, «ich habe Euch schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß es nötig sei, den Schlosser zu holen. Die Schlüssel bewegen sich schwer, und manchmal kostet es Mühe, die Riegel einrasten zu lassen.»
Das stimmte. Aber Schwarzbach hatte Fredas Hinweis nicht beachtet und schnell vergessen. Er wußte nicht mehr, warum, irgend etwas war wohl immer eiliger gewesen.
«Kostete es gestern auch Mühe?»
Daran erinnerte Freda sich nicht, aber sie schwieg. Sollte sie erklären, daß sie unaufmerksam gewesen und an etwas anderes gedacht hatte? Nämlich Madame Herrmanns zu bitten, daß sie ihr erlaubte, ihrem Stiefsohn botanischen Zeichenunterricht zu geben. Das wäre ein Anfang. Aber das konnte sie gerade Schwarzbach nicht anvertrauen.
«Nun? Ihr überlegt lange.»
«Weil ich gründlich überlege. Nein, ich kann mich nicht erinnern, daß es schwer ging. Aber wenn ich jetzt gleich nach dem Schlosser schicke, braucht Ihr Euch darum keine Gedanken mehr zu machen.»
«Natürlich werde ich die Schlösser sofort richten lassen, aber es ist zu spät, Freda. In der vergangenen Nacht ist jemand eingebrochen und hat wichtige Dokumente aus der Truhe gestohlen. Sehr wichtige, kostbare Dokumente. Könnt Ihr mir sagen, wer außer Euch wußte, daß die Schlösser schadhaft sind?»
Freda starrte ihn an, sein Gesicht erschien ihr fremd, die Augen schmaler, die Lippen blasser. Zu spät, hatte er gesagt. Zu spät.
Schwarzbach beobachtete sie, und er sah, wie ihre grauen Augen dunkler wurden, er sah ihre Angst, und das gab ihm Stärke.
«Ich kann nicht glauben, daß einfach irgend jemand von der Straße hereinkommt, zufällig die Truhe offen vorfindet und mit meinem Musterbuch davonläuft.»
«Das Musterbuch? Es ist gestohlen?»
Schwarzbach nickte. «Und auch, ich vertraue nun auf Eure absolute Verschwiegenheit, Baders Rezeptheft. Er hat es mir versiegelt anvertraut, damit ich es in der Truhe sicher verwahre. Ich muß Euch nicht erklären, wie geheim und wertvoll die Rezepte der Coloristen sind. Die Leuchtkraft und Dauerhaftigkeit der Farben sind das Kapital jeder Kattundruckerei. Nicht umsonst wird kaum ein Handwerker so gut bezahlt wie unsere Färber. Zu gut, wenn Ihr mich fragt. Der Diebstahl ist ein großes Unglück.»
«Aber Ihr könnt nicht glauben, daß ich die Rezepte gestohlen habe. Ich wußte nicht einmal, daß Ihr sie verwahrt. Ihr selbst habt mir erklärt, daß die Coloristen ihre Rezepte auch vor den Manufakturherren geheim halten.»
Er sah sie an. Wenn sie sich nun kalt und mit gestrafftem Rücken erhob, wenn ihre Augen wieder heller wurden, würde er seinen Plan verwerfen. Aber sie blieb sitzen,ihre beiden Hände legten sich fest um die Lehnen. Sie erschien ihm kleiner als zuvor.
«Ihr werdet verstehen, daß mir der Gedanke trotzdem kam.» Seine Finger glitten sachte über den aufgeklappten Deckel der Truhe. «Aber ich kenne Euch gut, und Ihr wißt, wie sehr ich Euch schätze. Es macht auch keinen Sinn. Ihr habt selbst viele der Muster gezeichnet, warum solltet Ihr das Buch stehlen? Das Rezeptheft allerdings wäre für Euch wie für jeden anderen von großem Wert. Und wäre es
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