Lorettas letzter Vorhang
Übelkeit zu überstehen.»
Eine halbe Stunde später klopfte Niklas vorsichtig an die Tür des Salons. Er hatte sich gewundert, daß schon seit zwei Stunden niemand nach ihm geschickt und ihn bei seiner Lektüre über die Suche nach einer Uhr gestört hatte, die genau genug ging, um den Seeleuten endlich zu ermöglichen, auch auf schaukelnder See und in feuchter Luft die Längengrade zu messen. Plötzlich war er sicher gewesen, daß alle das Haus, ja, die ganze Wandrahminsel verlassen hatten, weil eine riesige, alles verschlingende Flut heranrollte. Und ihn, den niemand brauchte, der ja nur störte und seinen Vater enttäuschte, hatten sie vergessen.
Aber da saßen sie um den großen Tisch, und zum ersten Mal sah er Tante Augusta, die sonst bei aller Freundlichkeit immer so traurig schien, vergnügt lächeln. Er wußte nicht, ob er darüber froh sein sollte, denn bisher war er es doch gewesen, der sie erheitert hatte. Vielleicht brauchte auch sie ihn nun nicht mehr.
«Komm herein, mein Sohn», rief sein Vater und winkte ihm befremdlich fröhlich zu, «dich haben wir ja über unseren Geschäften fast vergessen. Du hast bestimmt großen Hunger.»
Und dann rief er so laut, daß es durchs ganze Haus zu hören war, nach Blohm, er solle endlich das Abendessenauftragen und dazu von dem Burgunder aus dem Keller holen.
Später, als Augusta und Niklas schon zu Bett gegangen waren und Claes sich genug darüber gefreut hatte, daß Augusta nun wieder ganz die alte wurde, erzählte Anne ihm noch ein wenig von ihrem beschaulichen Teenachmittag. Von den Riechfläschchen, was ihn sehr amüsierte, von Agnes’ neuem Service, was ihn überlegen ließ, wie der beneidenswerte Thomas es nur schaffte, trotz seiner Geschäfte so oft über den Kanal in seine Heimat zu reisen. Aber wahrscheinlich sei es ja gerade
wegen
seiner Geschäfte, und im nächsten Frühjahr, das sei hiermit versprochen und beeidet, wolle er endlich mit Anne nach Jersey reisen. «Wegen deiner Geschäfte?» fragte sie und fuhr ihm liebevoll durchs Haar.
Von dem Plan, den wöchentlichen Teenachmittag zu etwas anderem als dem üblichen Geplauder zu nutzen, sagte sie nichts. Sie hatte Angst, er würde auf diese besondere Art lächeln, die die Mundwinkel nicht froh nach oben, sondern in vermeintlicher Nachsicht nach unten zog. Dieses Lächeln, das sie damals für einige Stunden hatte zweifeln lassen, ob sie wirklich Madame Herrmanns werden wollte.
8. KAPITEL
SAMSTAG, DEN 10. OKTOBER, VORMITTAGS
Lorettas leibliche Hülle bekam schließlich doch noch eine angemessene letzte Ruhestätte. Nachdem Rosinas erster brennender Zorn über selbstgerechte Kirchenmänner verraucht war, fiel ihr der letzte Besuch bei Lies und Matti ein. Die alte Lies war fast ihr ganzes Leben als Komödiantin über die Straßen gezogen, zuletzt wie Rosina mit der Beckerschen Gesellschaft. Als sie vor zwei Jahren ihre alte Freundin Matti wiedertraf, war sie im Haus der nicht minder alten Hebamme am Hamburger Berg doch noch seßhaft geworden. Matti hatte erzählt, der junge Pastor von der St.-Pauli-Kirche auf dem Hamburger Berg sei ein wirklich erfrischender Gottesmann. Einer, der sich nicht nur mit dem strengen Paulus und dem Alten Testament auskenne, sondern auch Vergebung und Nachsicht gegen menschliche Schwächen predige, er sei ein wahrer Jünger Jesu Christi, und lachen könne er lauter als jeder Hanswurst. Auch wenn er selbst nicht immer so friedfertig sei, wie er es von seiner Gemeinde fordere, treffe sein Groll, hatte Lies mit ganz ungewohnt heiterer Miene gesagt, immer die richtigen.
Und so bekam Loretta Grelot, die eigentlich Lore Gürlich geheißen und niemandem ernsten Schaden zugefügt hatte, nicht nur ein Grab für sich allein hoch über der Elbe unter dem weiten Himmel anstatt in einem Armengrab imstickigen Gängeviertel, sondern auch einen Trauerzug, auf den sie sehr stolz gewesen wäre. Niemand vom Theater fehlte. Selbst die Souffleuse, die immer noch dachte, daß eigentlich sie hätte sterben sollen, folgte dem schwarz verhangenen Wagen, den die Herrmanns bestellt hatten und von ihren vier Rappen ziehen ließen. Die Glocken läuteten, und das Theaterorchester spielte drei Choräle, die der Wind weit über die Grenze nach Altona hineintrug. Daß Madame Hensel beim zweiten beinahe ohnmächtig wurde, machte großen Eindruck, auch wenn es nur daran lag, daß gerade der Wind drehte und Roosens Tranbrennereien unten am Ufer eindringlich ins Bewußtsein brachte.
Die Leute auf
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