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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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hinaus, zur Vordertür wieder hinein und zurück zur Galerie. Gerade als er auf der Treppe war, sei Monsieur Seyler vor den Vorhang getreten und habe verkündet, das Theater sei aus. So sei es gewesen, und niemals könne er einem Menschen ernsthaftes Leid zufügen, er, ein Mann aus gutem Hause, dem nur ein tragisches Schicksal den Platz vorenthalte, für den er bestimmt sei.
    Wagner und seine Gehilfen zeigten sich wenig beeindruckt von Lukas Blanks Schicksal. Das und ähnliches hatten sie schon oft gehört. Und immer wieder wünschte der Weddemeister sich, die Leute, die hier vor ihm saßen, wären bei der Beichte ihrer Untaten ebenso beredt wie bei ihren Klagen über ein ungerechtes Los. So brachten sie Lukas schließlich in eine feuchte, dunkle Kammer, schlossen seine rechte Hand an eine Kette, gerade lang genug, damit er sich auf den Strohsack in der Ecke legen konnte, und sagten ihm, er möge die Nacht gut nutzen, um nachzudenken. Morgen habe er wieder Gelegenheit, endlich die Wahrheit zu sagen. Die Sache mit der Bitte um Verzeihung glaube ihm kein Mensch.

9.   KAPITEL
    SONNTAG, DEN 11.   OKTOBER, MORGENS
    Bald nach Sonnenaufgang hatte es begonnen zu regnen. Es war ein leiser, unaufdringlicher Regen, fein wie Staub, aber als Rosina den Theaterhof erreichte, hatte er ihr wollenes Schultertuch durchdrungen. Sie fröstelte. Ohne die wärmende Sonne der letzten Tage war es nun schon bitterkalt. Als sie über den Gänsemarkt eilte, begegnete sie nur einem Mann, dessen Karren voller Töpfe und Körbe, notdürftig mit alten Fetzen Ölpapiers bedeckt, von zwei struppigen gelben Hunden gezogen wurde. Die Last war zu schwer für die Tiere, und so schob er mit beiden Händen die Karre vorwärts. Er hatte seinen Kopf unter der schwarzen Mütze tief gegen den Regen gesenkt, und seine Fäuste auf dem hinteren Karrenholz waren rot und rauh.
    Sie sah ihm nach und dachte an die Beckersche Gesellschaft. Die zog nun auch bei Wind und Wetter irgendwo durch das Land, zwar nicht mit solchen armseligen Karren, sondern auf drei von guten Pferden gezogenen Wagen. Aber wenn der Oktober zu Ende ging, begann für alle, die auf den Straßen zu Hause waren, die harte, kalte Zeit. Sie hoffte, bald einen Brief von Helena zu bekommen, in dem womöglich stand, daß sie für den Winter ein längeres Engagement gefunden hätten, das ihnen die Wanderung über die eisigen, windgepeitschten Straßen wenigstens für einigeWochen ersparen würde. Für einen Moment war sie trotz aller Kümmernisse froh, die nächsten Monate nicht auf einer Wanderbühne, sondern in dem großen, festen Theater am Gänsemarkt und im warmen Haus der Krögerin zu verbringen.
    Sonst war der Gänsemarkt wie leergefegt, keine Wasserträger, keine Verkäufer von Windrädern, Zimtkringeln oder letzten Astern. Keine Ausrufer oder Flaneure, auch keine Männer und Frauen, die eilig ihrer Arbeit nachgingen. Die Läden und Werkstätten in den untersten Etagen der hochgiebeligen Häuser rund um den Platz waren verschlossen, nur vor dem Wachhaus stand ein Soldat von der Stadtwache und sah ihr träge gähnend nach. Am frühen Sonntagmorgen war ganz Hamburg in den zahlreichen großen und kleinen Kirchen der Stadt beim Gottesdienst. Auch das gesamte Ensemble des Theaters saß jetzt auf den hinteren Bänken in St.   Michaelis. Aus echter Frömmigkeit oder auf Anordnung von Abel Seyler, der diesen Beweis bürgerlicher Tugend für eine wichtige Voraussetzung erachtete, um das Ansehen des Theaters zu fördern. Natürlich würde es später Fragen geben, warum Rosina heute gefehlt hatte, aber ihr würde schon eine Ausrede einfallen.
    Nur jetzt, um diese Stunde, konnte sie sicher sein, ungestört nach Lukas Blanks Buch zu suchen, was immer es für eines sein mochte. Sie hatte Wagner nichts davon erzählt, sie wußte selbst nicht genau, warum, und wenn er das herausbekam, würde er ihr wahrscheinlich für lange Zeit gram sein. Vielleicht würde sogar sein Vertrauen in sie schwinden. Sie war längst nicht mehr sicher, ob sie in diesen Tagen klug oder einfach nur eigensinnig handelte.
    Auch der Hof um das Theater war leer, nur ein paar Enten watschelten durch die Pfützen und gründelten nachihrem Frühstück. Der Regen rann von ihrem glänzenden Gefieder wie winzige Perlen. Rosina blieb stehen und lauschte. Irgendwo jammerte ein Kind, und über der Alster kreischte kurz und schrill eine Möwe. In der Ferne rumpelte ein Wagen, aber sonst war kein Laut zu hören, nicht einmal eine Glocke. Sie

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