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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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raffte ihre nassen Röcke, glitt unter die hintere Treppe, unter der Charlotte den Streit zwischen Lukas und Loretta beobachtet, aber wegen der zugehaltenen Ohren leider nicht gehört hatte. Irgend etwas drückte durch die dünne Sohle ihres rechten Schuhs, sie bückte sich und fand einen Kamm. Charlotte würde doch noch Ärger mit ihrer Mutter bekommen haben. Als sie so alt war wie Charlotte, hatte sie auch ständig ihre Kämme verloren. Lächelnd steckte sie ihn in ihre Rocktasche. Charlotte würde sehr froh sein, ihn zurückzubekommen. Dann drückte sie behutsam gegen den Rahmen des Fensters. Der linke Flügel gab gleich nach. Es hatte also niemand bemerkt, daß sie gestern den Riegel gelöst hatte. Das Fenster war klein, und es kostete Rosina Mühe und einen langen Riß in ihrem Rock, hindurchzuschlüpfen. Bevor sie das Fenster zuzog, beugte sie sich noch einmal vorsichtig hinaus. Der Hof war immer noch leer, niemand hatte sie gesehen.
    Nun stand sie in der Unterbühne, glättete ihre feuchten Röcke und schloß sorgfältig den Riegel. Sie wollte nicht überrascht werden, und sei es auch nur von einem vorwitzigen Nachbarkind, das sie womöglich doch beobachtet hatte. Hauptsache, niemand schickte nach der Stadtwache, damit sie als Einbrecherin Lukas in der Fronerei Gesellschaft leistete. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie die Umrisse der Maschinerien. Hier unten verbargen sich die profanen Ursachen so vieler wunderbarer Begebenheiten auf der Bühne. Es warunwahrscheinlich, daß Loretta Gelegenheit gehabt hatte, das Buch hier zu verstecken, aber es konnte nicht schaden, trotzdem nachzusehen. Gleich neben dem Fenster stand die Donnermaschine, ein etwa sieben Fuß hohes Gestell, in dem schwere Steine in einer langen, über Seile und Rollen auf- und abbewegten hölzernen Kiste ein wahres Lärmgewitter veranstalten konnten. Rosina stellte sich auf die Zehenspitzen und sah in die Holzkiste: nichts als dicke Steine. Aber es war zu dunkel, um Genaues zu erkennen, deshalb kletterte sie auf einen Schemel und tastete den Grund der Kiste sorgfältig ab. Tatsächlich nichts als Steine.
    An den beiden seitlichen Wänden stand je eine große, fest im Boden verankerte Haspel. Von jeder liefen Seile zu den Unterteilen der rechten und der linken Seitenkulissen, die so gleichzeitig auf ihren Holzrädern vor- und zurückgefahren werden konnten. Auf den hohen Kulissengestellen, die durch Spalten im Bühnenboden von der Unter- bis zur Oberbühne reichten, konnten drei verschieden bemalte, auf Rahmen gespannte Leinwände eingehängt werden. So kostete die Verwandlung der Bühne von einem Salon oder Gasthaus in einen dunklen Wald oder eine Fahrt auf dem Meer zwischen den Akten nur einen Augenblick. Auch die Lichtbäume in allen Kulissengassen links und rechts der Bühne, auf denen wie auf einer Etagere vier Öllampen oder Kerzen übereinander angebracht waren, wurden von der Unterbühne aus gedreht, auf jeder Seite durch einen Drehbalken und über Rollen laufende Seile immer in den Winkel, der für die jeweilige Szene das passende Licht spendete. Während der Vorstellung agierten unter der Bühne mindestens so viele Menschen wie auf ihr. Rosinas Augen hatten sich jetzt an die Düsternis gewöhnt, sie erkannte nun die Vorrichtungen für die Versenkungen. Deren starke Seile waren jetzt fest an ihrer jeweiligen Haspel verzurrt. Sollte plötzlich ein Dämon aus der Unterwelt auftauchen oder ein Baum schnell aus der Erde wachsen, sollte ein Sünder wie Dr.   Faustus in der Hölle verschwinden, ein Schiffbrüchiger im Meer versinken, war ihr Platz auf einer der sechs kaum mehr als anderthalb Fuß großen Quadrate im Bühnenboden, die von hier unten mit einer großen Winde hinauf- und hinabbewegt wurden. Aber in den letzten Tagen waren sie nicht gebraucht worden.
    Die Soffitten, die Quervorhänge des Bühnenhimmels und der Prospekt, die breite Kulisse, die als Rückwand der Bühne Landschaften, Zimmerwände oder ganze Zauberwelten erschuf, wurden mit ähnlichen Maschinerien aus Seilen, Rollen und Haspeln von der Oberbühne aus bedient. Aber dort oben war Loretta ganz bestimmt nicht mehr gewesen.
    Rosina seufzte. In diesem Theater mußte es tausend Plätze geben, an denen ein Buch zu verstecken war. Aber es war tatsächlich unmöglich, daß Loretta die Gelegenheit gehabt hatte, in diesem Labyrinth aus Stangen, Balken, Seilen, Kisten und abgestellten Kulissen so kurz vor der Vorstellung auch nur einen Knopf zu

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