Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Katastrophen und Unfälle«, sagt sie fröhlich. »Siebzehn Jahre! Und dann kommst du, und ehe ich weiß, wie mir geschieht, bin ich Fluchthelfer, Beobachter einer Schlafzimmer- OP und bin Zeuge einer unglücklichen Liebe …«
»Wir sind nicht …«
»Lass gut sein«, sage ich zu Sean. »Mit Lekha zu streiten bringt nichts.«
Sean seufzt. »Neil und Alisha saßen noch am Esstisch, als wir aufgestanden sind, und haben Wein getrunken. Ich geh zu ihnen runter und verwickle sie in ein Gespräch. Dann sehen sie nicht, wie ihr die Taschen zum Auto bringt.«
Ich werfe Lekha Seans Tasche zu und nehme meine eigene in die Hand. Sean geht und kurz darauf hören wir seine Stimme aus dem Esszimmer. Wir warten noch zwei Minuten, dann gehen wir ebenfalls nach unten. Wir schaffen es zum Auto, ohne jemandem zu begegnen. Lekha lehnt sich erleichtert an die Fahrertür und sagt, sie warte draußen, während ich Sean hole. Ich kehre ins Haus zurück. Der kleine Schnitt in meinem Rücken pocht und mir ist, als müsste ich mich gleich übergeben.
Ich steige zu Sashas Zimmer hinauf. Sasha schreibt gerade Tagebuch für ihr Echo. »Hi, Sash«, sage ich, »ich fahre mit Lekha und Sean in die Stadt, bin also eine Weile weg, okay?«
»Kann ich mitkommen?«, fragt sie eifrig.
»Heute nicht. Du musst noch Tagebuch schreiben. Komm her.« Es bricht mir das Herz. »Drück mich noch mal, ehe ich gehe.«
Ich schließe sie in die Arme. Sie legt den Kopf an meinen Hals und reibt ihn daran wie eine Katze. Ich lache und drücke sie fest an mich. Weil ich sie so fest drücke, beginnt sie zu zappeln und blickt fragend zu mir auf. Ich lasse sie los und sie wirf sich wieder auf ihr Bett. Ich lächle erleichtert.
»Sei brav.«
»Das bin ich doch immer!«, ruft sie empört.
Ich werfe ihr eine Kusshand zu und zwinge mich zu gehen. Sean sitzt noch im Esszimmer. Ich sage ihm, dass Lekha draußen auf uns wartet.
»Viel Spaß«, sagt Alisha. »Vielleicht findet ihr in einem Geschäft ja einen Elefanten aus Jade. Das wäre doch ein schönes Souvenir.«
»Tschüss«, sage ich. Sean, der Meister des Pokerfaces, verabschiedet sich ebenfalls. Dann fasst er mich an der Hand und zieht mich nach draußen, bevor mein Gesicht uns verraten kann.
Ich drehe mich nicht noch einmal um. Dazu fehlt mir die Kraft. Die Straße liegt einladend vor mir und der Himmel wölbt sich über mir. Ich muss mich beeilen. Ich muss fliegen. Oder bleiben und verwelken und durch die Hand eines Meisters sterben.
Sean steigt hinten ein, ich setze mich auf den Beifahrersitz. Wir fahren nicht gleich los, sondern sitzen stumm da und denken daran, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn wir jetzt losfahren. Dann atmet Lekha mit einem melodramatischen Seufzer aus und dreht den Schlüssel im Zündschloss. Der Wagen macht einen Satz und der Motor erstirbt. Ich muss lachen. Lekha belegt das Auto mit einigen Flüchen, dann startet sie noch einmal und wir fahren die Straße entlang. Es ist so weit. Wir sind unterwegs.
Wir haben uns entschieden, alle drei. Wir haben uns entschieden, ob wir die Initiative ergreifen wollen oder einfach still abwarten. Die Freundin daran hindern, ihr Leben zu riskieren, oder ihr dabei helfen, es zu retten. Sie begleiten oder sie allein lassen. Jetzt müssen wir mit unseren Entscheidungen leben, egal welche Folgen sie nach sich ziehen.
»Hat denn niemand etwas zu erzählen?«, will Lekha wissen, nachdem wir volle drei Minuten geschwiegen haben.
»Radio?«
Lekha schnaubt und stellt es an. Gerade wird »Stop Crying Your Heart Out« von Oasis gespielt. Das hat etwas zu bedeuten, finde ich und schöpfe Hoffnung.
»Warum ist denn hier so viel Verkehr?«, schimpft Lekha in regelmäßigen Abständen. »Das macht mich wahnsinnig.«
»Wenn du willst, kann ich fahren«, biete ich an. Ich habe ihr und auch Ray oft beim Fahren zugesehen und glaube, ich würde damit zurechtkommen.
Sean brummt etwas. »Bloß nicht.«
»Dann fahr du. Du hast als Einziger einen Führerschein.«
»Mit dem Auto meiner Mutter fährt niemand«, sagt Lekha. »Es geht schon. Ich habe schon einen Elefanten in einem Fluss gebadet, da werde ich wohl Auto fahren können.«
Trotz einiger unfreiwilliger Stopps und Lekhas zahlreicher Flüche, als ein Motorrad an uns vorbeirast und dabei fast den Seitenspiegel mitnimmt, lassen wir das Gewühl der Innenstadt rechtzeitig hinter uns. Ab da brauchen wir nur noch eine lange Straße geradeaus zu fahren und Lekhas Laune bessert sich dramatisch.
Am Flughafen
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