Lost Girl. Im Schatten der Anderen
kann sie nur kurz vor dem Abflugterminal halten, bevor ein Sicherheitsbeamter sie wieder vertreibt. Wir steigen rasch aus und nehmen unsere Taschen.
»Pass auf dich auf«, sagt Lekha, »und ruf mich an. Irgendwann. Damit ich weiß, dass es dir gut geht.«
»Mach ich. Kommst du wieder gut zurück?«
Sie nickt unter Tränen.
Dann umarmt sie mich und drückt mich fest. Ich drücke sie noch fester. »Danke für alles«, flüstere ich. »Danke.«
»Viel Glück«, flüstert sie. »Und iss niemals auf einem Flughafen Sushi.«
Sie küsst Sean auf die Wange, steigt wieder ein und fährt los. Wir sehen ihr nach und ich schluchze. Lekha werde ich wahrscheinlich von all den Menschen, die ich hier zurücklasse, am meisten vermissen.
»Dann mal los«, sage ich. »Die unglücklich Verliebten fordern das Unglück heraus.«
Sean lacht und ich merke, wie sehr mir sein Lachen gefehlt hat. Ich konnte ihn immer zum Lachen bringen.
Ungehindert passieren wir die Flughafenkontrollen, aber ich kann mich nicht entspannen, ich bin so aufgekratzt wie noch nie. Erst als wir im Flugzeug sitzen und weder Polizei noch die Meister aufgetaucht sind, wird mir klar, dass wir es geschafft haben. Die Flucht ist geglückt.
Schon als wir abheben, schlafe ich fest.
4. Riskant
S ean steckt Kleingeld in das Münztelefon und wählt eine Nummer. Wir wagen nicht, unsere Handys zu benutzen. Mein Sender funktioniert inzwischen wahrscheinlich nicht mehr und die Späher sind bestimmt schon seit Stunden hinter uns her. Angespannt und mit fest vor der Brust verschränkten Armen stehe ich einige Schritte von Sean entfernt und lasse den Blick über die Menschen wandern. Auf dem Flughafen von Manchester herrscht ein chaotisches Treiben, das mir nicht gefällt. Jeder hier könnte ein Späher sein. Ich habe schreckliche Angst, dass ich ihn bei diesem Trubel zu spät bemerke.
Ich will Sean sagen, dass er sich beeilen soll, aber er bringt mich mit einem grimmigen Blick zum Schweigen. Ich halte den Gurt meiner Schultertasche so fest umklammert, dass meine Finger ganz taub werden und der Gurt schweißnass ist. Alles an mir klebt und ich bin nervös und hundemüde. Wir sind schon fast einen ganzen Tag unterwegs und haben nur während des Fluges einige Stunden geschlafen. Aber ich werde mich an diesen Zustand gewöhnen müssen. Ich darf nicht erwarten, ein ruhiges Leben zu führen.
»Geschafft«, sagt Sean und tritt neben mich. »Gehen wir zum Bahnhof.«
»Ich darf also mitkommen?«, frage ich zufrieden.
Wir haben darüber während des ganzen Fluges gestritten. Mein Schlüssel gehört zu einem Schließfach in London. Sean wollte mit dem Schlüssel allein nach London fahren, den Inhalt holen, und mich in Manchester lassen, möglichst weit weg von der Meisterei. Aber ich wollte nicht allein zurückbleiben.
»Kompromiss«, sagt Sean. »Wir fahren beide nach London, aber ich gehe allein zum Schließfach.«
Ich überlege. »Also gut, einverstanden.«
Sean ist erleichtert. Mit mir zu streiten kann sehr anstrengend sein.
»Wen hast du angerufen?«
»Einen Freund in London. Ich dachte, er wüsste einen sicheren Ort, an dem wir schlafen können, während wir dort sind. Nur für ein, zwei Nächte. Länger in London zu bleiben wäre gefährlich.
»Hotel?«
Sean schüttelt den Kopf. Wir schieben uns durch die Menschenmenge und folgen einem Wegweiser zum Bahnhof. »Wir sollten lieber sparsam sein, wenn es geht. Ich dachte, wir könnten uns im Theater verstecken. Dort wird zwar geprobt, aber nachts ist niemand da. Wir müssen eben aufpassen, dass man uns tagsüber nicht sieht.«
Das klingt riskant, aber ich habe auch keine bessere Idee. Mir ist kalt. Ich blicke über die Schulter, weil ich jeden Moment damit rechne, dass mich jemand anspringt.
Draußen scheint grell die Sonne. Am Bahnhof kauft Sean die Fahrkarten, während ich in einem Laden etwas zu essen hole. Es fällt mir schwer, mich von ihm zu trennen. Allein sind wir viel verletzlicher. Ein Moment der Unachtsamkeit und schon stürzt sich ein Späher auf einen. Ich nehme die erstbesten Sandwiches, die ich sehe, und lege noch einige Schokoriegel und zwei Flaschen Wasser dazu. Meine Hände zittern. Ungeschickt suche ich in meiner Tasche nach Geld.
Ich sehe Sean auf mich zukommen und starre ihn einen Moment lang an. Es ist ein komisches Gefühl: Einerseits bin ich froh, andererseits habe ich solche Angst. Es ist Monate her, dass ich wie jetzt über mein Schicksal selbst bestimmen kann und nicht wie ein herrenloses
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