Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Meister.
Schließlich gelangen wir zu einem großen, gepflasterten Platz, der aussieht, als wäre er tagsüber sehr belebt. In seiner Mitte steht ein verschnörkelter Brunnen, in den die Leute Münzen werfen, um sich etwas zu wünschen. Ich kann die Füße kaum noch heben. Sean geht es nicht viel besser.
»Hier herein.« Er nimmt mich am Arm und zieht mich in eine schmale, dunkle Gasse. Sie sieht aus wie der ideale Ort für einen Überfall.
Auf halbem Weg durch die Gasse bleibt Sean stehen und legt die Hand an den Knauf einer Tür zu unserer Linken. Sean vergewissert sich mit einem Blick, dass niemand uns beobachtet, und drückt die Tür auf. Er lässt mich vorausgehen und macht die Tür hinter uns zu. Ich kann nur vermuten, dass Sean bei seinem Anruf jemanden gebeten hat, die Hintertür für uns offen zu lassen. Zwar gefällt mir nicht, dass noch jemand weiß, wo wir uns heute Abend aufhalten, aber ich sage nichts.
Sean findet den Weg durch das dunkle Theater ohne Mühe. Er war offenbar schon oft hier. Ich konzentriere mich auf die verschiedenen Gerüche – frische Farbe und ein neuer Teppich – verdränge den Gedanken an Dinge aus Seans Leben, von denen ich nichts weiß. Dinge wie das Theater und seine Freunde, und dass er das alles meinetwegen zurücklassen muss.
Hinter der Bühne bleibt Sean stehen und greift nach einem Stockhaken, der an einem Heizkörper lehnt. In der Decke über uns erkenne ich eine Klappe. Sean zieht sie herunter und fährt eine Leiter aus. Wir steigen auf den Dachboden und schließen die Tür hinter uns wieder zu. Der Dachboden ist sauber, aber ziemlich voll. Es riecht nach frischer Wäsche. Offenbar werden hier die Kostüme und Requisiten gelagert.
Sean dreht an einem Schalter und eine nackte Glühbirne wirft einen hellen, goldenen Schein durch den niedrigen Raum und taucht ihn in leuchtende Farben. Geblendet blinzle ich Sean an.
»Wir sollten das verdunkeln«, sage ich, sobald ich wieder sehen kann, und zeige auf das einzige Fenster des Dachbodens. »Jemand könnte das Licht bemerken und wissen wollen, wer so spätabends noch hier oben ist.«
»Gute Idee.« Sean lässt seine Tasche neben meine fallen. »Sieh in diesen Koffern nach, dort findest du vielleicht ein passendes Stück Stoff. Ich suche inzwischen bei den Requisiten nach Matratzen und Laken.«
Ich öffne den nächstbesten Koffer und wieder steigt mir der Geruch frischer Wäsche in die Nase. Sorgfältig durchsuche ich Kostüme und Stoffe. Mit dem Koffer daneben mache ich weiter. Im dritten finde ich einen Ballen schwarzen Samt. Ich breite ihn aus, finde noch einige Reißzwecken und klaue aus der Requisite ein Stück schwarzen Karton.
Ich decke das Fenster sorgfältig ab, dann gehe ich zu Sean, um ihm zu helfen. Wir ziehen zwei Matratzen an die Stelle, die wir zu unserem Schlafplatz auserkoren haben, und Sean holt ein paar Kissen. Ich suche noch einmal in den Koffern und finde saubere Laken und Bettdecken.
Am liebsten würde ich sofort auf meine Matratze fallen und einschlafen. Ich widerstehe der Versuchung und lächle Sean an.
»Wir haben Glück.«
»Nein«, erwidert er grinsend. »Das Stück, das gerade gespielt wird, enthält einige Bettszenen, ich wusste deshalb, dass es hier Matratzen und Bettzeug gibt.« Und er fügt hinzu: »Am besten schreibe ich vorsorglich eine Nachricht und hefte sie an einen Koffer.« Er überlegt. »Liebe Mrs Brown, bitte entschuldigen Sie, wenn wir keine Zeit mehr zum Aufräumen hatten. Wir mussten in aller Eile aufbrechen. Wir sind nämlich auf der Flucht, es handelt sich sozusagen um einen Notfall. Mit zerknirschten Grüßen, S. J. Franklyn. Ja, das gefällt ihr bestimmt.«
Ich lache zum ersten Mal seit Tagen und hole mein Nachthemd aus der Tasche. »Am liebsten würde ich meine Kleider verbrennen, so lange habe ich sie schon an«, sage ich.
»Im Stockwerk unter uns gibt es Duschen, gleich neben den Umkleiden. Wie wär’s damit?«
»Du hast gerade meinen Tag gerettet.«
»Na dann komm, ich zeige sie dir.«
Ich schnappe mir noch ein Handtuch, eine Haarbürste, Shampoo, Seife und frische Unterwäsche und steige hinter Sean die Leiter hinunter.
Als ich nach dem Duschen nach oben zurückkehre, hat Sean ebenfalls schon geduscht. Seine Haare sind nass und auf der Stirn glänzen noch einige Tropfen. Er liegt ausgestreckt auf einer Matratze, als hätte er auf mich warten wollen, ist darüber aber eingeschlafen. Ich decke ihn zu und rolle mich auf meinem eigenen provisorischen Lager
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