Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Boot auf dem Wasser dahintreibe. Zwar bin ich in Gefahr, aber ich lebe, und wenn unsere Flucht gelingt, bleibt das auch so. Es ist zwar nicht der Idealzustand, sich ständig umblicken zu müssen und Angst zu haben, aber es ist der Mühe wert. Denn dafür habe ich mein Leben zurückbekommen.
Sean dagegen hat sein bisheriges Leben aufgeben müssen. Ich schlucke. Eines Tages muss er es wieder aufnehmen, ich werde ihn dazu drängen. Das bin ich ihm schuldig.
»Sieh mich nicht so an«, sagt er und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich räuspere mich: «Wann fährt unser Zug?«
»In etwa zehn Minuten.«
Ich gebe ihm ein Sandwich und wir essen im Gehen. Wir steigen die Treppe zum Bahnsteig hinunter und warten dort. Meine Tasche fühlt sich von Minute zu Minute schwerer an. Sean sieht genauso müde aus, wie ich mich fühle.
Als der Zug einfährt und wir unsere Plätze suchen, bin ich halb in Trance. Es ist nicht leicht, wach zu bleiben. Ich setzte mich ans Fenster, reibe mir die Augen und sehe zu den vorbeigehenden Menschen hinaus.
Da entdecke ich ihn. Seine stechend blauen Augen.
Zuerst ist es wie ein Traum, unwirklich. Langsam und kalt kriecht mir die Angst den Rücken hinauf. Dann bin ich plötzlich starr vor Schreck und zugleich hellwach.
Der Zug fährt an, aber mein Blick klebt am Bahnsteig. Wo ist er? Eben war er noch da!
Ich springe auf und steige über Sean in den Mittelgang.
»Eva, was …?«
Ich achte nicht auf ihn und renne den Gang entlang, drücke das Gesicht an die Fenster und halte nach ihm Ausschau. Eine Hand fasst mich am Ellbogen. Erschrocken fahre ich herum, sofort bereit, mich zu verteidigen, aber es ist nur Sean. Besorgt sieht er mich an.
»Was ist denn los?«
»Ich habe … ich dachte … ich dachte, ich hätte ihn gesehen …«
Sean führt mich zu unseren Plätzen zurück. Die anderen Reisenden starren uns verwundert an. Aber das ist mir egal. Ich setze mich, überzeugt, dass die Reise für mich gleich zu Ende ist. Oder dass ich verrückt werde und mir Dinge einbilde, die gar nicht da sind.
»Wen hast du gesehen?«
Ich lecke mir über die trockenen Lippen. »Matthew.«
»Wo?«, fragt Sean ruhig, sieht sich aber misstrauisch um. »Auf dem Bahnsteig? Hat er uns gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Es war nur ein kurzer Augenblick.« Zweifel mischen sich in meine Stimme. »Wenigstens könnte ich schwören, dass ich ihn gesehen habe. Aber als ich dann wieder hinsah, war er verschwunden. Vielleicht habe ich ihn mir nur eingebildet.«
»Du hast kaum geschlafen. Und du hast Angst. Da ist es wahrscheinlich normal, dass man überall Gespenster sieht. Wenn er es wirklich gewesen wäre, hätten die Späher uns schon längst festgenommen.«
Seans Worte klingen logisch, aber sie beruhigen mich nicht. Ich muss ständig an Matthew denken, der so gerne Spiele spielt, und daran, wie er mich angesehen hat, als ich aus dem Zug zu Sean hinausgerannt bin. Es würde ihm so ähnlich sehen, aufzutauchen und zu verschwinden, nur um mich zu verunsichern.
»Versuch zu schlafen«, sagt Sean.
Aber ich schlafe nicht. Er auch nicht. Die Meisterei ist auf einmal erschreckend nah an uns herangerückt.
5. In Sicherheit
B ei unserer Ankunft in London ist es schon spät. Die Sonne ist längst untergegangen und aus den Häusern fällt fahles Licht auf die Straße. Wir steigen sofort in ein Taxi und Sean nennt dem Fahrer einen Straßennamen. Ich balle die Hände zu Fäusten, um meine Anspannung zu lösen, und höre nur mit halbem Ohr zu, wie der Fahrer Sean seine Ansichten zu Verkehr, Regierung und Wetter mitteilt. Die Fahrt dauert nicht lange. Wir steigen schon bald wieder aus, zahlen und danken dem Fahrer. Das Taxi verschwindet in einer Abgaswolke.
»Wir müssen noch ein kurzes Stück in diese Richtung gehen«, sagt Sean. »Ich wollte dem Fahrer lieber nicht unser genaues Ziel nennen.«
Ich bin todmüde, habe aber nicht vergessen, dass Matthew uns vielleicht in Manchester gesehen hat. »Lass uns zuerst in die falsche Richtung gehen und dann umkehren«, sage ich. »Nur um sicher zu sein, dass uns niemand folgt.«
Sean scheint beeindruckt, dass ich überhaupt an eine solche Vorsichtsmaßnahme denke. Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu, dann folge ich ihm. Ich glaube im Grunde nicht, dass wir in diesem Moment beobachtet werden. Es ist weit und breit niemand zu sehen und auch Späher können sich nicht unsichtbar machen. Trotzdem, wir können nicht vorsichtig genug sein, erst recht nicht in der Stadt der
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