Lost Girl. Im Schatten der Anderen
stibitze noch ein paar Kekse von einem Tablett in der Ankleide. Ich kehre so schnell wie möglich wieder auf den Dachboden zurück.
Sean ist noch keine halbe Stunde weg. Um mich zu beschäftigen, räume ich ein wenig auf, knabbere einen Keks und blättere durch eins der Bücher, die ich eingepackt habe. Doch ich kann mich nicht auf den Text konzentrieren und überlege stattdessen, wohin wir als Nächstes gehen könnten.
Geradezu zwanghaft sehe ich immer wieder auf die Uhr. Die Zeit vergeht quälend langsam und das Herumsitzen und Warten ist unerträglich.
Ich schalte das Licht aus, schiebe die Fensterabdeckung vorsichtig ein wenig zur Seite und blicke auf die Straße und den Platz hinunter. Er ist belebt, wie ich vermutet habe, voller Buden und Menschen. Weiter weg sehe ich zwischen Dächern und Kirchtürmen einen Fluss glitzern. Ich öffne das Fenster einen Spalt und atme die Luft von draußen ein. Sie ist warm und riecht nach Sommer, nach nassem Gras, Zwiebeln und gegrilltem Fleisch, aber mir wird davon nicht warm. Meine Hände sind eisig.
Sean ist jetzt schon fast zwei Stunden weg. Ich schließe das Fenster, decke es wieder ab und schalte das Licht ein. Weil ich unbedingt etwas tun muss, drücke ich das Ohr an die Klappe im Boden und vergewissere mich, dass unten alles ruhig ist. Dann steige ich leise hinunter, um die Flaschen noch einmal aufzufüllen.
Diesmal allerdings ist die Ankleide nicht leer. Vor der Wand steht ein Mann und betrachtet ein Plakat. Er scheint geradezu auf mich zu warten.
Er dreht sich um. Ein silbernes Kettenhemd blitzt auf. Ich sehe das Funkeln seiner Augen und Panik erfasst mich.
»Matthew«, würge ich heraus.
» Sir Matthew, bitte«, knurrt der Meister wie ein hungriger Tiger.
6. Marionette
I ch will wegrennen, aber etwas hält mich zurück. Ich taumele, suche nach Halt und bekomme den Türrahmen zu fassen. Krampfhaft klammere ich mich daran fest.
»Was wollen Sie jetzt tun?«, frage ich und unterdrücke ein panisches Wimmern. »Bitten Sie mich gleich, Ihnen unauffällig zu folgen? Das können Sie vergessen.«
Er verdreht die Augen. »Mach bitte nicht ein solches Theater. Wie wäre es, wenn du mir zur Abwechslung einfach einmal brav zuhörtest?«
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um brav zuzuhören. Ich werde nicht einfach tun, was Sie mir sagen.«
»Bitte nicht in diesem Ton«, sagt Matthew und unterdrückt ein Gähnen. »Es reicht vollkommen, wenn du dich überschwänglich bei mir bedankst.«
»Warum sollte ich?«
»Ich weiß nicht, ob du dich schon umgesehen hast, liebe Eva«, sagt er gelangweilt. »Wenn ja, hättest du bemerkt, dass ich allein bin. Wenn ich dich in die Meisterei mitnehmen wollte, hätte ich Theseus oder Lennox mitgebracht. Nicht dass ich nicht auch allein mit dir fertig würde, aber ich will mein neues Hemd nicht in einer Prügelei mit dir ruinieren. Von daher liegt nahe, dass ich nicht gekommen bin, um dich festzunehmen.«
Ich verstehe nur Bahnhof. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Ich«, sagt Matthew, »weiß alles. Hatten wir das nicht schon ausführlich besprochen?«
»Waren Sie gestern in Manchester?«
Er lächelt, ohne auf die Frage einzugehen. »Ich halte es für klug, unser kleines Gespräch an einen, äh, diskreteren Ort zu verlegen.«
Er hat Recht, auch wenn es mir schwerfällt, es zuzugeben. Ich zeige ihm den Weg zum Dachboden, unterdrücke meine Angst und denke fieberhaft nach. Vorhin habe ich mir sehnlichst gewünscht, Sean möge schnell zurückkehren. Jetzt hoffe ich, dass er noch ein wenig fortbleibt. Matthew soll ihn nicht auch noch erwischen.
Oben angekommen, lasse ich Matthew nicht aus den Augen, wie eine Schlange, die plötzlich zum Angriff übergehen könnte.
»Warum haben Sie keinen Späher mitgebracht?«, frage ich.
»Sie waren gerade beschäftigt«, erwidert Matthew unbekümmert. »Außerdem dachte ich, dann nimmt alles seinen vorhersehbaren Gang und das ist so furchtbar langweilig. Wenn du jetzt zur Meisterei zurückkehrst, wirst du verurteilt und ein trauriges Ende finden. Und ich bekomme kein neues Material für meine Abhandlung über das Verhalten von Echos. Du hast mich einmal um Hilfe gebeten und ich habe gesagt, du müsstest deinen Kopf selbst aus der Schlinge ziehen. Was du auch getan hast, mehr oder weniger. Ich muss zugeben, ich war mir nicht sicher, ob du die Flucht wagen würdest. Ich bin beeindruckt. Es war überaus unterhaltsam und ich bin schon sehr gespannt darauf, was du als Nächstes tun
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