Lost Girl. Im Schatten der Anderen
»Bitte sprich mit mir.«
Sie küsst mich auf den Kopf. Ich weiche nicht zurück, antworte ihr aber auch nicht. Ich will ihr sagen, dass ich sie verstehe, dass ich es kapiert habe, dass es aber trotzdem wehtut. Ich habe ihr vertraut, und obwohl sie sich dessen bewusst war, hat sie mich trotzdem hintergangen.
»Ich hab dich lieb, vergiss das nicht.«
Sie geht und ich rolle mich mit einem Kloß im Hals auf dem Bett zusammen. Schmerzen und Demütigung haben mich erschöpft und ich bin nach einigen überlangen Tagen todmüde.
Ich versuche, einige Stunden zu schlafen und wieder ein wenig Kraft zu sammeln. Aber der Schlaf ist nicht besonders erholsam. Ich träume von einem Kinderzimmer und einer Uhr, Matthew singt Lieder von schönen, aber schaurigen Dingen. Ich wache auf und bin noch genauso müde.
Die Einsamkeit meines kleinen Zimmers ist erdrückend. Die ungelenk in den Fenstersims eingekratzten Worte Ich bin Henry Willow werden mir bei jedem Lesen klarer. Ich stelle mir vor, wie ich darunter Ich bin Eva ritze.
Ich suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Ich überprüfe das Fenster, aber es ist zu schmal, um sich hindurchzuzwängen, selbst für jemanden meiner Größe. Ich untersuche alles. Die Wände sind viel zu dick und massiv, als dass ich ein Loch hindurchschlagen könnte. Ich suche nach Lüftungsschlitzen oder Klappen im Boden, finde aber nichts. Auch die Tür prüfe ich, aber das Holz gibt nicht nach. Es hätte mir auch gar nichts genützt, sie aufzustemmen, ich wäre draußen nur vor den Füßen des Wächters gelandet. Theseus ist höflich, aber ich mache nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Wenn ich ihn angreife, wird er ganz bestimmt, ohne zu zögern, sein Messer benutzen.
Wenigstens habe ich eines erreicht: dass Sean gehen konnte. Ich sage es mir immer wieder und denke nicht an den Ausdruck auf seinem Gesicht oder wie er mich vor dem Gehen noch geküsst hat. Er ist in Sicherheit und das ist ein Erfolg. Vielleicht mein einziger.
Ich höre ein Geräusch an der Tür und fahre hoch.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich schlinge die Arme um die Knie und lasse die Tür nicht aus den Augen. Ophelia? In mir regt sich eine leise Hoffnung: Erik?
Die Tür geht auf und in ihr steht eine untersetzte, stämmige Frau mit grimmigem Gesicht und Haaren wie die runde Krone eines Ashoka-Baums.
Mir bleibt die Luft weg.
Mina Ma marschiert herein und lässt die Tür donnernd hinter sich zufallen. Sie ist eine Furie, die nichts aufhalten kann. Ich werfe mich ihr in die Arme und breche in Tränen aus. Sie riecht wie Butter.
»Alles wird gut, Kind, nicht weinen«, sagt sie munter, aber ich kann ihre Worte nicht glauben, nicht solange sie mich genauso fest umklammert wie ich sie und sie klingt, als kämpfe sie selbst mit den Tränen. »Da können wir doch etwas Besseres mit unserer Zeit anfangen.«
»W-was machst d-du denn hier?«, schluchze ich und verliere komplett die Fassung. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich Mina Ma noch einmal wiedersehen würde. Dass die Meister es zulassen würden.
»Was glaubst du denn?«, fragt sie empört. »Dummerchen. Als ich hörte, dass sie dich festgenommen haben, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.«
»Und sie haben dich zu mir gelassen?«
Mina Ma sieht mich für einen kurzen Moment zufrieden an. »Ich habe die richtige Person gefragt, nämlich Elsa.« Ihre Miene verdunkelt sich. »Sie erzählte mir einige sonderbare Dinge über dich und Adrian Borden.«
Mir wird heiß im Gesicht und ich halte Mina Mas Blick kaum stand. Ich wische die letzten Tränen weg. »Er hat ihr also schon gesagt, was er mir angeboten hat?«
»Ja. Und dass du einverstanden warst.«
Ich beiße mir auf die Lippe und weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sie meinte auch, ein Teil der Vereinbarung sei gewesen, dass Sean freikommt.« Mina Ma fixiert mich. »Wirklich interessant. Du hast diesem Kuhhandel nicht zufällig nur seinetwegen zugestimmt?«
»Ich …« Ich sehe sie eingeschüchtert an. »Du weißt von dem Schlafbefehl. Ich musste zustimmen, um zu überleben.«
»Und du willst hierbleiben? Adrian wirklich helfen?«
Etwas an ihrem Ton erstickt meine Lügen im Keim. »Nein«, sage ich und lasse die Luft entweichen, »ich würde keine Sekunde länger hierbleiben, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. Ich wollte fliehen. Aber das geht nicht und jetzt fällt mir nichts mehr ein.«
Mina Ma sieht mich lange Zeit ernst an. Dann steckt sie die Hand in die Falten ihres Saris und zieht
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