Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
Vom Netzwerk:
vergessen, was Sean von Grabräubern, Experimenten und anderen seltsamen dunklen Gerüchten über Adrian Borden erzählt hat. Wenn die Gerüchte stimmen, arbeiten er und sein ältester Freund vermutlich Hand in Hand.
    »Ah«, sagt Matthew, »da ist unser Zug ja.«
    Ich vergewissere mich, dass noch alle Taschen da sind. Matthew ist bereits losgegangen. Ich folge ihm mit einigen Schritten Abstand. Was wohl passieren würde, wenn ich mich einfach umdrehe und in die andere Richtung gehe? Würde er mich verfolgen? Oder die Späher der Meisterei zu Hilfe rufen und sie bitten, mich aufzuspüren?
    »Wie ich höre, knetest du Vögel aus Wachs«, sagt Matthew ein paar Minuten später völlig unvermittelt. Wir sitzen in der U-Bahn.
    Meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Woher wissen Sie das?«
    »Ich weiß alles. Begreif das doch endlich.«
    Ich überlege, ob ich das mit den Vögeln abstreiten soll. Ob ich ihm sagen soll, dass ich nie etwas machen würde, was so überhaupt nicht zu Amarra passt. Aber er wird mir nicht glauben. Und warum sollte ich etwas verleugnen, was mir so viel bedeutet?
    »Ja, ich knete Vögel. Und andere Sachen.«
    »Und wie wäre dir zumute, wenn einer dieser Vögel oder eine dieser anderen Sachen beschließen würde, vom Tisch ins Verderben zu springen?«
    Ich frage mich, ob er vielleicht nicht ganz normal ist. »Wie bitte?«
    »Wärst du wütend?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Verärgert? Wärst du nicht enttäuscht, wenn dieses Geschöpf, auf das du so viel Zeit und Mühe verwendet hast, deine ganze Arbeit einfach wegwirft und sich zerstört?«
    »Wahrscheinlich«, sage ich.
    »Genauso geht es mir mit dir.« Seine Zähne blitzen weiß. »Und mit allen Echos, die gegen die Gesetze verstoßen und uns zwingen, sie zu töten. All die Zeit und Mühe, die ihre Erschaffung gekostet hat, war vergebens.«
    »Wir sind keine Vögel aus Wachs!«
    Matthew schnalzt voller Mitgefühl mit der Zunge und tätschelt mir die Wange. Seine Hand fühlt sich an wie aus Stahl. »Für mich schon.«
    Ich habe einen kalten, säuerlichen Geschmack im Mund, so sehr hasse ich ihn, und ich muss wegsehen, damit ich nicht ausraste.
    Den Rest der Fahrt schweige ich. Ich spreche erst am Flughafen wieder, als es sein muss. Matthew hat einen Pass für mich und einen falschen für sich, beide mit demselben Familiennamen. Als sei ich ein echter Mensch und er mein Vater. Ich muss über die bittere Ironie fast lachen.
    Doch dann tut er etwas Seltsames. Im Flughafen ist es sehr kalt. Ich habe nur an das heiße, sonnige Indien gedacht und deshalb weder Mantel noch Fleecejacke ins Handgepäck gesteckt. Fröstelnd stehe ich in der Schlange an der Sicherheitskontrolle.
    »Hier«, sagt Matthew und gibt mir eine Jacke.
    Ich will sie nicht nehmen, aber ich friere und habe außerdem das Gefühl, dass er es nur lustig finden würde, wenn ich mich weigerte. Also ziehe ich die Jacke an und murmle leise ein Dankeschön. Er lächelt strahlend und pfeift eine muntere Melodie, während wir weiter vor der Sicherheitsschleuse warten.
    »Wie viele von uns gibt es eigentlich?«, frage ich. »Wie viele haben Sie erschaffen?«
    »Wir drei haben ein paar Hundert geschaffen. Ich glaube, die meisten leben noch. Aber dazu kommen noch die vielen, vielen Hundert unserer Vorgänger. Von denen leben nur noch wenige.«
    Im Vergleich zu den unzähligen normalen Menschen, die es gibt, fallen »mehrere Hundert« kaum ins Gewicht. Trotzdem ist es eine eindrucksvolle Zahl. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es so viele von uns gibt.
    »Waren die Meister immer zu dritt?«
    Matthew sieht mich ein wenig unschlüssig an. Behagen ihm die vielen Fragen nicht? Dann antwortet er mir doch. »Nein, wir sind die erste Dreier-Generation. Vor Adrian gab es jeweils nur einen Meister. Adrians Familie ist schon seit zweihundert Jahren dabei. Es gab immer einen Borden in der Meisterei.«
    »Warum hat Adrian mit der Tradition gebrochen?«
    »Wenn wir zu dritt Echos schaffen«, sagt Matthew und er klingt wieder gelangweilt, »hat Adrian mehr Zeit für seine anderen … Ambitionen. Leben zu schaffen fasziniert ihn zwar nach wie vor, aber es reicht ihm nicht mehr.«
    »Reicht es Ihnen und Elsa?«
    »Du stellst zu viele Fragen«, sagt Matthew ungeduldig. »Schluss damit, es nervt. Ich kann nicht für Elsa sprechen, aber ich zumindest bin immer noch stolz auf das, was ich kann. Ich bereue zwar allmählich, dich geschaffen zu haben, aber das ist ein anderes Thema.«
    Ich gehe nicht darauf ein.

Weitere Kostenlose Bücher