Lost Girl. Im Schatten der Anderen
»Haben Sie deshalb beschlossen, mich selbst nach Bangalore zu bringen? Um sicherzustellen, dass kein Jäger Ihre Schöpfung zerstört?«
»Kurios«, sagt Matthew, »du findest trotz allem noch gute Absichten in mir. Das solltest du nicht, wirklich nicht. Ich bin kein guter Mensch. Gut aussehend gewiss. Und zweifellos genial. Aber kein guter Mensch. Du wirst es irgendwann begreifen.« Er gähnt. »Ich denke, ich werde im Flugzeug ein Nickerchen machen. Sei also bitte leise.«
Er schläft tatsächlich bald darauf tief und fest oder tut wenigstens so. Ich habe trotz seiner geschlossenen Augen und des entspannt zurückgelehnten Körpers das Gefühl, dass er mich weiter beobachtet. Warum eigentlich? Er weiß doch, dass ich ihm während eines Fluges nicht davonlaufen kann. Ich starre geradeaus und hasse ihn von ganzem Herzen. Eine unbestimmte Sehnsucht erfüllt mich.
Mit der Zeit gelingt es mir besser, ihn nicht zu beachten. Ich muss zehn Stunden auf ein und demselben Platz sitzen und habe nichts zu tun, deshalb holen mich die Erinnerungen an das ein, was ich zurückgelassen habe. Ich muss ununterbrochen an Sean denken und daran, wie er aussah, als ich ihn auf dem Bahnsteig zurückließ. Oder an Mina Ma, die ich so sehr vermisse, dass es schmerzt wie Sand auf der Zunge. Oder an Erik oder Ophelia. Ein Leben ohne sie ist für mich undenkbar.
Sean.
Aber neben mir sitzt kein Freund oder Vormund, sondern ein Meister. Ein Mensch, der mit einem einzigen Wort meine Existenz beenden könnte.
Ein schrecklicher Gedanke.
Ich darf mir keinen Fehler erlauben.
Als wir uns Bangalore nähern, liegt die Angst mir wieder schwer im Magen. Meine Muskeln schmerzen und mir ist übel. Dies ist meine Chance zu überleben, meine Chance auf ein langes, normales Leben. Zugegeben, ich muss dazu eine perfekte Nachbildung sein, aber zu wissen, dass ich für dieses Leben kämpfen kann, dass es in meiner Macht steht, ob ich leben werde, hilft.
Viel zu früh landen wir und ich wanke ein wenig benommen aus dem Flugzeug. Da keine Fluggastbrücke frei ist, wird eine große stählerne Treppe an die Tür geschoben. Wir überqueren das Rollfeld zum Terminal. Mit einer solchen Hitze habe ich nicht gerechnet. Feuchte Luft legt sich wie eine Decke über uns und ich rieche nasse Erde, Staub und etwas wie Meer, was erstaunlich ist, weil ich weiß, dass wir meilenweit von der nächsten Küste entfernt sind. Vielleicht kommt es von der salzigen Luft.
Bevor wir das Terminal betreten, schließt sich Matthews Hand wieder wie ein Schraubstock um meinen Arm.
»Eins solltest du noch wissen«, sagt er ganz ruhig und freundlich. »Es ist nicht klug, mich herauszufordern. Ich liebe Herausforderungen und gewinne sie gern. Ich habe beobachtet, wie du in den vergangenen achtzehn Stunden ein Gesetz gebrochen hast. Du hast dich mir widersetzt und ich habe es zugelassen, aber bilde dir deshalb bloß nicht ein, du kämst immer ungestraft davon. Ich bin in der Lage, dich in diesem Augenblick zu töten. Dazu brauche ich keinen weiteren Grund. Ich kann dir jederzeit dein Leben nehmen. Pass von jetzt an besser auf, sonst hast du verspielt. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Und bevor ich antworten und die eiserne Hand abschütteln kann, setzt er noch einen drauf.
»Wo wir gerade davon reden, Eva«, sagt er im Plauderton, »wie war’s eigentlich im Zoo von Blackpool?«
3. Fremd
I ch habe keinen Appetit. Mechanisch bewege ich die Hand, spieße Nudeln auf die Gabel und führe sie zum Mund. Das Schlucken fällt mir schwer. Überdeutlich nehme ich jedes Geräusch wahr. Das Klirren des Bestecks, das Klappern der Gabel auf dem Teller und das gleichmäßige Atmen der Menschen rechts und links von mir: Matthew und ein Junge mit einem schmalen, blassen Gesicht und weichen, verträumten Augen, die genau dieselbe braune Farbe haben wie meine. Er spricht kein Wort. Matthew klopft ununterbrochen mit dem Fuß gegen das Tischbein, ein lästiges Geräusch. Gelegentlich knackt es, wenn die jüngste Person am Tisch, ein fünfjähriges Mädchen, in eine Peperoni beißt. Ich werfe ihr immer wieder Blicke zu, ich kann nicht anders. Ich habe aus der Ferne mitverfolgt, wie sie von einem Baby zu einem kleinen Mädchen herangewachsen ist. Sie jetzt leibhaftig vor mir zu sehen, ist ein unwirkliches Gefühl. Sie lächelt mich ohne Scheu an. Sie hat kleine, gleichmäßige Zähne, ein süßes Lächeln und weiche, lockige schwarze Haare. Es hieß immer, Sasha und Amarra sähen sich sehr ähnlich. Sasha
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