Lost Girl. Im Schatten der Anderen
schwingt die Beine hin und her. Sie kommt damit noch nicht auf den Boden, dazu ist sie zu klein. Ich spüre bei jeder Bewegung einen leichten Luftzug.
Am Tisch herrscht Schweigen. Auch mit gesenktem Kopf spüre ich, wie die anderen mich verstohlen mustern, alle mit Ausnahme des elfjährigen Nikhil. Auf seinem Gesicht liegt ein friedlicher, gedankenverlorener Ausdruck, als könnte nichts auf der Welt ihn erschüttern.
Die Fahrt vom Flughafen hierher hat lange gedauert. Das Haus liegt in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Sackgasse nahe dem Zentrum, eine Oase der Ruhe inmitten dieser lebhaften Stadt voller Lichter. Durch das Fenster rieche ich die nassen Bäume, sie riechen sauber und unberührt von den Gerüchen der Stadt, dem Staub und den Hufen der Stadtkühe, die auf den Straßen stehen und den Weg versperren.
Auf der Fahrt hierher sind wir so einer Kuh begegnet. Friedlich und mit hin und her schwingendem Schwanz stand sie mitten auf der Straße. Die Autos bremsten und hupten, doch die Kuh hob nur den Kopf und betrachtete den Stau, den sie verursachte. Ich lehnte mich aus dem Fenster und glotzte sie an. Mina Ma hatte mir von solchen Kühen erzählt, aber ich hatte es für ein Märchen gehalten.
Alisha, Amarras Mutter, hatte uns am Flughafen abgeholt. Es war ein Schock, sie zu sehen. Ich kannte sie nur von Fotos und Videos, jetzt stand sie leibhaftig vor mir.
Sie erwartete uns auf der anderen Seite der Schiebetür des Terminals. Hinter ihr sah ich den nachlassenden Regen, das rote Schild des Flughafencafés und die Schlange der wartenden Autos, die jemanden abholten oder brachten.
Wir sahen Alisha, bevor sie uns entdeckte. Sie war schön und schlank und wirkte sehr jung, überhaupt nicht wie über vierzig. Die großen braunen Augen in dem herzförmigen, von schwarzem Haar umrahmten Gesicht gaben ihr etwas Weiches, Erdverbundenes. Sie trug Jeans und eine Bluse, was an ihr aber eleganter aussah als jedes Abendkleid. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass ihre Finger voller Farbe waren. Es war das einzige Mal, dass ich an diesem Tag lächeln musste.
Als wir uns der Schiebetür näherten, entdeckte sie uns und alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie knetete nervös die Hände, sodass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
Ich dachte unwillkürlich, wie vertraut mir diese Bewegung doch war. Wie oft hatte ich schon selbst die Finger verknotet und die Hände gerungen?
Sie streckte die Arme nach mir aus, dann hielt sie inne. Mit den Augen suchte sie mein Gesicht ab, sog jedes Detail in sich auf. Am längsten blickte sie mir in die Augen, bis ich die Not, den Kummer und die verzweifelte Hoffnung in ihrem Blick nicht mehr ertragen konnte.
Ich wollte gerade wegsehen, da erschien ein so glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht, dass es mir in der Seele wehtat. Sie umarmte mich und drückte mich fest an sich. Dabei zitterte sie am ganzen Leib.
»Du bist es wirklich«, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich war mir nicht sicher … ich wusste nicht, ob es funktionieren würde … aber deine Augen sagen es mir. Ich würde sie überall erkennen.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Einerseits kam ich mir ziemlich erbärmlich vor, weil ich sie in dem Glauben beließ. Andererseits war ich einfach nur froh, dass sie mich nicht länger so todtraurig ansah. Bewegungslos stand ich da und konnte ihre Umarmung aus lauter Angst nicht erwidern.
»Die Leute starren uns schon an, Alisha«, sagte Matthew. Er klang so träge und gelangweilt wie immer.
Alisha trat zurück und wischte sich über das Gesicht. »Das hier ist ein Flughafen, Matthew«, sagte sie. »Da weinen alle!« Sie lächelte ihn ein wenig unsicher an, als könnte sie seinen Ton nicht so recht deuten. »Danke.«
Matthew nickte und unterdrückte ausnahmsweise einmal eine schnoddrige Bemerkung. Das machte mich neugierig. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden sich besser kannten, als bei einer Nennmutter und einem Meister zu erwarten gewesen wäre.
»Was ist?«, fragte Alisha und musterte mich besorgt mit ihren verweinten Augen. Ich wusste nicht, ob ich krank, verängstigt oder einfach nur mitgenommen aussah. Meinem Gefühl nach spiegelten sich wohl all diese Regungen in meinem Gesicht. Alisha tätschelte mir den Arm.
»Sie hat eine lange Reise hinter sich und ist müde«, antwortete Matthew an meiner Stelle. »Ich habe dich gewarnt. Sie wird noch einige Zeit brauchen, bis sie sich in ihrem neuen Leben zurechtfindet.
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