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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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Zeit, in der Sicherheitsgurte auf der Rückbank als überflüssige Schikane gegolten hatten.
    Als wir standen, musste ich an die Geschichte von dem Mungo, dem Bauern und der Schlange denken, die Mina Ma uns erzählt hatte. Ich muss immer daran denken, wenn ich das Tattoo auf meinem Handgelenk sehe. Ich dachte daran, wie der Bauer das fremde Tier nach Hause mitgebracht hatte und wie er und seine Frau es so liebevoll versorgt hatten, ohne ihm wirklich zu vertrauen. Und als die Katastrophe dann scheinbar eingetreten war, musste das Tier dafür büßen.
    Ich verdrängte die Geschichte, trat hinter Alisha und Matthew durch eine Haustür, die nicht abgeschlossen war, in einen hellen Flur.
    »Neil? Wir sind da!« Alisha klang so aufgeregt vor Freude, dass ich es kaum ertrug.
    Aus einem Zimmer kam ein Mann mit einem Geschirrtuch in der Hand. Er war sehr dünn und trug eine Brille. Seine Haare waren strubbelig und seine Kleider zerknittert, aber makellos sauber. Ich erkannte ihn sofort, bis hin zu seiner unordentlichen Erscheinung.
    »Guten Tag, Matthew«, sagte er mit einer angenehmen Tenorstimme und streckte die Hand aus.
    Matthews Augen funkelten. »Neil.« Ich erkannte darin wieder das scheinbar gut gelaunte Raubtier, das ich so verabscheute und dem ich misstraute. »Gut siehst du aus.«
    »Danke, du auch.« Neils Augen waren von einem helleren Braun als meine und voller Licht. Er wandte sich mir zu. Ich war bewegungslos stehen geblieben. Er lächelte vorsichtig und kam näher. Hinter dem Lächeln verbarg sich eine schreckliche, tiefe Traurigkeit.
    »Guten Tag«, sagte er. Er vermied absichtlich meinen Namen.
    »Hallo«, sagte ich. »Dad«, hätte ich hinzufügen sollen, aber meine Zunge verweigerte den Dienst. Ich hatte das Wort noch nie in meinem Leben gesagt.
    Er musterte mich prüfend, wie Alisha es getan hatte, aber sein Gesicht zeigte keinerlei Hoffnung. Vielleicht hatte er einmal gehofft, aber er musste in dem Moment, als er mich sah, erkannt haben, dass diese Hoffnung vergebens war. Er war ein Verstandesmensch, Alisha ein Gefühlsmensch.
    »Siehst du sie auch, Neil?«, fragte Alisha aufgeregt. »Siehst du Amarra?«
    »Ich sehe ihr Gesicht, Al«, erwiderte er, doch es klang freundlich.
    Neil fragte Matthew etwas und Alisha warf mir einen raschen Blick zu, besorgt, seine Reaktion könnte mich gekränkt haben. Amarra wäre sicherlich gekränkt gewesen.
    »Gib ihm Zeit«, raunte sie mir ins Ohr. »Du kennst deinen Vater. Es dauert eine Weile, bis er sich an die neue Situation gewöhnt hat und begreift, dass du wieder da bist.«
    Oder bis Alisha begreift, dass Amarra nicht mehr da ist, dachte ich traurig.
    Auf der Treppe polterten Schritte. Ein Junge und ein kleines Mädchen kamen herunter und ich spürte zu meiner Überraschung einen Stich in der Brust. Ich hatte mir seit der Geburt der beiden eingeredet, ich hätte sie lieb. Dabei hatte ich offenbar nicht bemerkt, dass daraus irgendwann tatsächlich Zuneigung geworden war.
    Der Junge kam zögernd näher. Sein Gesicht erinnerte mich an das Gemälde eines Heiligen: gütig, von einer unerschütterlichen Ruhe, ein wenig gedankenverloren. Neugierig betrachtete er mich. Das kleine Mädchen sprang die letzten Stufen hinunter und rannte zu seiner Mutter.
    »Siehst du, Sasha, was habe ich gesagt? Dass ich Amarra mit nach Hause bringe.«
    »Hallo«, sagte Sasha schüchtern. »Wie waren deine Ferien?«
    Ich musste mich erst mühsam räuspern. »Schön. Und du, warst du in der Schule?«
    Sasha grinste und versteckte das Gesicht hinter ihrer Mutter. Alisha lachte. »Sie war die ganze letzte Woche zu Hause. Du bist ein kleiner Tyrann, nicht wahr, Schatz? Neil lässt ihr alles durchgehen, wenn sie ihn traurig ansieht.«
    Hinter Alishas Beinen hob Sasha schüchtern die Hand und winkte mir zu. Sie schien zu spüren, dass das neue Mädchen entgegen den Versprechungen ihrer Mutter keineswegs ihre Schwester war.
    Das Abendessen lässt sich zunächst gut an. Man kann die Speisen loben, Sasha will mehr Peperoni und bringt alle zum Lachen, als sie sie fallen lässt, und Alisha plaudert munter drauflos. Aber selbst sie kann das Gespräch nicht endlos aufrechterhalten. Als Matthew verdächtig still wird, erstirbt die Unterhaltung ganz.
    Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu, weil ich seine böse Absicht erkenne. Er will nur sehen, was wir tun, wenn uns nichts ablenkt, wie wir uns abmühen, uns miteinander zu arrangieren. Mein Blick beeindruckt ihn freilich nicht im Geringsten. Er lächelt

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