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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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Erwarte also nicht zu viel von ihr.«
    Er hätte genauso gut von »neuem Körper« wie von »neuem Leben« sprechen können, denn Alisha sah ganz offensichtlich Amarras Seele in mir. Ich hätte mich darüber freuen müssen, denn es bedeutete, dass meine Nenneltern mich behalten würden. Die Illusion zu zerstören hätte außerdem geheißen, Alisha wieder unglücklich zu machen. Ich fühlte mich trotzdem schuldig.
    »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte sie erschrocken. »Verzeihung, Schatz, du stehst bestimmt noch unter Schock. Der furchtbare Unfall … und die Veränderung …«
    »Keine Bange«, sagte Matthew und sah mich seltsam belustigt an. »Die erholt sich schon wieder.«
    Alisha runzelte die Stirn. »Du klingst schon wie Adrian. Deine Bemerkungen haben in letzter Zeit einen zynischen Unterton, an den ich mich von früher nicht erinnere.«
    »Da könntest du Recht haben«, sagte Matthew.
    »Hat er sich während der Reise gut um dich gekümmert?«, fragte Alisha mich fürsorglich. Sie erinnerte mich plötzlich an Mina Ma, die auch immer über mich gewacht hatte. »Hat er sich anständig benommen?«
    Matthew tat zutiefst gekränkt. »Ich benehme mich immer wie ein Gentleman.« Er grinste mich an. »Nicht wahr?«
    Alisha lachte. »Ich kenne dich, Matthew.« Sie musterte mich noch einmal besorgt, erwartete zu meiner Erleichterung aber offenbar keine Antwort. »Lass uns zum Auto gehen, Schatz, du siehst müde aus. Brauchst du ein Bett für die Nacht, Matthew?«
    »Ich weiß nicht, ob Neil damit einverstanden wäre, deshalb nein. Ich habe ein Hotelzimmer. Aber danke für das Angebot.«
    Alisha wich seinem Blick aus. »Dann komm wenigstens mit zum Essen.«
    Ich wurde nicht schlau aus den beiden. Waren sie befreundet? Oder waren sie es früher gewesen? Alisha kannte sowohl Matthew als auch Adrian. Außerdem schien Matthew davon auszugehen, dass Neil ihn nicht mochte. Die Beziehung zwischen Nenneltern und Meister sah für gewöhnlich anders aus. Alisha zeigte weder Misstrauen noch Scheu, wie es Erik zufolge die meisten Nenneltern taten. Matthew schien sie zu verunsichern, aber nicht in seiner Rolle als Meister.
    Auf dem Weg zum Auto unterhielten die beiden sich. Ich setzte mich nach hinten, Matthew brachte seine langen Gliedmaßen auf dem Beifahrersitz unter. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Trotz des seltsam vertrauten Gesprächs hatte ich das Gefühl, dass er Alisha nicht ausstehen konnte.
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit der Stadt zu.
    Sie zu sehen war noch merkwürdiger als die erste Begegnung mit Alisha. Natürlich hatte ich mein ganzes Leben lang Fotos zugeschickt bekommen und Mina Ma hatte mir ausführlich von Bangalore erzählt und Straßen und Plätze beschrieben. Als Kind hatte ich zu ihren Füßen gesessen und, angeregt durch ihre Beschreibungen und durch Erinnerungen, die Amarra und mir gleichermaßen durch den Kopf gingen, Bilder gemalt. Auf den meisten hatte ich die Wirklichkeit ziemlich gut getroffen. Die Ashoka-Bäume, die ich jetzt in der Mitte einer langen Straße sah, hatte ich mir genau so vorgestellt. Mina Ma hatte immer im Scherz gesagt, die pilzförmigen Kronen der dunkelgrünen Bäume sähen genauso aus wie ihre Haare. Die Straßen waren von kleinen Buden gesäumt, die bis spät in die Nacht geöffnet hatten: Teeläden mit klappernden Edelstahlbechern und Süßwarengeschäfte, von deren provisorischen Dächern Tüten mit kandierten Chips herunterhingen. »Zuckerpommes« hatte Mina Ma sie genannt. Außerdem gab es Cola und Pepsi in Glasflaschen mit Kronkorken. Am Straßenrand saßen Männer, die kleine, zigarettenähnliche Stängel rauchten. Alles war mir so unglaublich vertraut und doch ganz und gar fremd.
    Während die Stadt um mich herum Gestalt annahm, überkam mich plötzlich unerträgliches Heimweh und ich sehnte mich nach Mina Ma. Deshalb war mir die Kuh gegen Ende der Fahrt auch so willkommen. Sie und die Ashoka-Bäume, die aussahen wie Mina Mas Haare, verhinderten, dass mein Kummer mich überwältigte.
    Alishas Einparkversuch vor dem Haus scheiterte kläglich. Autofahren war offenbar nicht ihre Stärke, obwohl sie – verglichen mit einigen Motorradfahrern, die unterwegs an uns vorbeigerast waren – noch als Naturtalent gelten musste. Sie fuhr rückwärts gegen eine Kokospalme, fluchte, machte einen Satz nach vorn und stieß gegen die hintere Stoßstange von Neils Wagen. Ich hielt mich an der Lehne von Matthews Sitz fest. Das Auto war schon alt und stammte offenbar aus einer

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