Lost Girl. Im Schatten der Anderen
nur und klopft weiter mit dem Fuß gegen das Tischbein. Wen will er eigentlich bestrafen? Mich? Die anderen? Handelt er aus reiner Neugier, so wie man etwa eine Ratte und einen Falken zusammen in einen Käfig sperrt, nur um zu sehen, was passiert?
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich frage mich, ob sich mein Unbehagen in diesem Haus je legen wird.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ist das Abendessen zu Ende. Ich sehe Matthew mit gemischten Gefühlen gehen. Er ist immerhin ein Teil meines alten Lebens. Und er hat mich geschaffen. Allerdings ist er auch derjenige, der über mich Bescheid weiß und der nicht zögern wird, mich zu töten.
»Dann bringe ich deine Sachen mal nach oben«, sagt Neil zu mir.
Alisha scheint mein Gepäck erst jetzt zu bemerken und runzelt die Stirn. »Warum hast du so viel mitgebracht? Du hast hier doch alles.«
»Ach das«, stottere ich, »das sind nur so Sachen.«
»Hm.« Alisha fängt einen Blick von Neil auf und lässt von ihrer Frage ab. Sie streicht mir über die Wange. »Soll ich nachher raufkommen und dir Gute Nacht sagen?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich gehe sofort schlafen.«
Unter den verstohlenen Blicken der anderen steige ich die Treppe hinauf und finde auf Anhieb Amarras Zimmer. Es fällt mir zwar schwer, so zu tun, als sei ich sie, aber ich erinnere mich haargenau an alles, was man mir über ihr Leben erzählt hat. Im ersten Stock führt ein Gang nach rechts und einer nach links. Ich wähle, ohne zu zögern, die richtige Richtung und öffne die richtige Tür.
Auf der Schwelle des dunklen Zimmers bleibe ich stehen und strecke automatisch die Hand nach rechts zum Lichtschalter aus. Erst dann fällt mir ein, dass ich nicht in meinem Zimmer stehe. Hier befindet sich der Schalter links. Niemand hat es mir gesagt, ich weiß es von Fotos. Warum sollte man auch jemandem mitteilen, wo die Lichtschalter sind? Daran denkt doch niemand. Nur dank meines guten Gedächtnisses erinnere ich mich an die Lichtschalter auf den Fotos.
Neil kommt hinter mir ins Zimmer und stellt die Taschen ab.
»Danke.«
»Gern geschehen.« Er zögert. »Wenn du etwas brauchst …«
»… frage ich. Danke.«
Er wendet sich zur Tür, hält aber noch einmal inne und dreht sich um. »Wer bist du?«
»Amarra.« Die Antwort scheint ihn nicht zu befriedigen. Nach kurzem Zögern füge ich hinzu: »Ein Echo von Amarra.«
»Und sie? Ist sie auch da?«
Es klingt geradezu komisch. Ist sie hier? Als sei mein Körper ein Haus, an dem die anderen anklopfen, weil sie wissen wollen, ob Amarra da ist.
»Ich bin da«, sage ich schließlich. Soll er das doch deuten, wie er will.
Er nickt. »Gute Nacht.«
Die Tür schließt sich hinter ihm. Ich lasse die Schultern fallen und merke, wie angespannt ich den ganzen Abend über war. Zwischen den Schultern spüre ich stechende Schmerzen. Erst jetzt, wo ich allein bin, kann ich mich entspannen, kann ich die Maske fallen lassen. Ich schließe die Augen, hole tief Luft und öffne sie wieder.
Ich sehe mich im Zimmer um und nehme jedes Detail in mir auf. Ich bin umgeben von einem Leben, das ein anderes Mädchen verloren hat. Es ist komisch, verloren klingt in diesem Zusammenhang nicht richtig. Man verliert seine Schlüssel, sein Handy, seine Lieblingsschuhe. Und oft findet man die Sachen einige Tage oder Wochen später wieder, unter dem Sofa oder ganz hinten im Schrank. Aber mit einem Leben, das man verloren hat, ist es anders. Mit einer Tochter, die man verloren hat. Kann man so etwas wiederfinden?
Alles in diesem Zimmer, von den auf dem Bett verstreuten Kleidern bis zu den Fotos auf dem Schreibtisch und den Büchern im Regal, gehört zum Leben einer anderen. Wohin ist sie verschwunden? Ihre Kleider sind da, ihr alter Teddybär, ihr Computer, alles ist unberührt. Das Zimmer riecht nach diesem anderen Mädchen, aber nicht nach mir. Amarra duftete schwach nach Mango. Wenn ich lausche, meine ich ihre Stimme zu hören, wie sie mit Sonya oder Jaya telefoniert, Sasha die Haare kämmt oder kichernd mit Ray auf dem Bett liegt und Pst! zu ihm macht, damit ihre Eltern sie nicht hören. Wo ist sie?
Als ich mit Auspacken fertig bin, liegen zwei fast identische Garnituren Kleider vor mir. Ich werde Amarras Sachen einpacken und hinten im Schrank verstauen. Ich verstehe jetzt, warum ich meine eigenen Sachen mitnehmen durfte. Bei der Vorstellung, Amarras Kleider zu tragen, wird mir übel. Die Vorstellung, mich in diesem Zimmer einzurichten, Amarras Geld auszugeben und mit ihrem Teddybären
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