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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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Ohren streichen oder sich auf den Stühlen fläzen. Gesprächsfetzen hüllen mich ein.
    »Hast du Kapitel sechs fertig gelesen?«
    »Ich hatte absolut keinen Bock. Das Buch ist so bescheuert, ich meine, niemand benimmt sich wirklich so …«
    »Das ist doch Absicht, du Idiot, weißt du, wie bei Keats …«
    »… also ich …« Ich erkenne, wem diese Stimme gehört. Lekha, die mit den funkelnden Augen und der klugen Stimme. »… ich finde, du bist in dieser Beziehung ein absoluter Philatelist. Bist du wirklich so beschränkt oder tust du nur so?«
    »Was bin ich? Ein Briefmarkensammler?«
    Lekha seufzt. »Nein, ein bekloppter Spießer.«
    »Doch, du hast Philatelist zu mir gesagt. Der sammelt Briefmarken.«
    »Ach wirklich?« Lekha klingt fasziniert. »Seltsam. Ich dachte immer, dass sei ein Philister.«
    Ich kann gerade noch ein Kichern unterdrücken.
    Zwei Reihen vor mir sagt jemand: »Warum glaubst du, sitzt sie allein?«
    »Ray sieht sie nicht mal an, ist schon merkwürdig.«
    »Pst, sie kann dich hören.«
    Ich merke, dass das Gespräch sich um mich dreht, und werde rot. Hastig senke ich den Blick auf das Buch vor mir, Sturmhöhe . Ich will mich darauf konzentrieren und meine Unsicherheit und Angst verdrängen, aber stattdessen denke ich an meine Vormunde. An Mina Ma und an Sean. Mühsam schlucke ich mein Heimweh hinunter. Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass dieses Leben vorbei sein soll. Dass ich die beiden nie mehr sehen werde. Ich kann es nicht.
    Sturmhöhe kenne ich inzwischen auswendig, entsprechend leicht folge ich dem Unterricht. Zwar melde ich mich nicht, sollen doch andere Mrs Singhs Fragen beantworten, aber es beruhigt mich, dass ich genauso viel über das Buch weiß wie die anderen oder sogar noch mehr.
    Ich stelle mir vor, was Sean auf seine gutmütig spöttische Art jetzt sagen würde, wie seine ironische Stimme klingen würde. Aber es fällt mir schwer. Mir ist schmerzhaft bewusst, dass er nicht wirklich neben mir steht und dass der Luftzug an meinem Ohr nicht sein Atem ist. Ich stelle mir vor, wie Mina Ma vor meiner Nase mit den Fingern schnippt und sagt: »Warum träumst du? Was nützt es dir? Komm in diese Welt zurück, Kind.«
    Also schiebe ich die Erinnerungen beiseite. Zwar tut es mir in der Seele weh, aber auch das ignoriere ich. Etwas vorzutäuschen, fällt mir inzwischen leichter.
    Beim letzten Klingeln bin ich vor Konzentration und Anspannung am Ende meiner Kräfte. Ich packe meine Sachen ein und gehe mit Sonya zu den Bussen draußen am Tor. Sie umarmt mich und rennt zu ihrem Bus, dem ersten in der Schlange. Meiner ist der fünfte. Ich bleibe am Tor stehen und warte.
    Neben mir taucht ein vertrautes Gesicht auf. »Hallo«, sage ich zu Nikhil. »Wie war dein Tag?«
    »Ganz okay«, meint er. »Und deiner?«
    »Hätte schlimmer sein können«, sage ich wahrheitsgemäß.
    »Muss anstrengend sein, die ganze Zeit so zu tun als ob.«
    Ich zögere und sage dann: »Ich weiß nicht, ob du über deine Schwester reden willst oder lieber nicht …«
    »Ist schon gut.« Seine Augen sind wie ein stiller See. »Es macht mir nichts aus. Frag mich nur nicht, ob ich sie vermisse oder traurig bin. Du weißt selbst, dass das dumme Fragen sind.«
    Ich nicke. »Ich wollte nur sagen, dass deine Mutter den Leuten erzählt hat, Amarra habe sich am Kopf verletzt und könnte sich deshalb manchmal nicht erinnern. Das hat es mir heute leichter gemacht. Die anderen verzeihen mir so meine Fehler eher.«
    »Mom glaubt, dass du Amarra bist«, sagt Nikhil. Unser Bus ist vorgefahren und wir gehen darauf zu. »Sie sagt, sie sei nicht dumm und merke selbst, dass du anders bist, aber wenn sie dich ansieht, dann sieht sie wirklich Amarra. Sie glaubt, Amarra sei noch da.«
    »Dein Vater glaubt das nicht.«
    »Nein, aber er will ihr nicht sagen, dass sie sich irrt. Er meint, wenn wir sie zwingen, ihre Hoffnung aufzugeben, tut ihr das nur weh.«
    »Und was meinst du?«
    Nikhil zuckt die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich wünsche mir, dass Amarra da ist, aber ich glaube es nicht. Wenigstens nicht so, wie Mom denkt. Du bist nicht sie.«
    »Und nimmst du mir das übel?«
    »Nein, aber Dad. Er sieht dich nicht gerne an.« Nikhil bemerkt meinen Gesichtsausdruck und runzelt ein wenig die Stirn. »Entschuldigung.«
    »Ist schon okay.«
    Nikhil überlegt. »Er meint das nicht böse. Er kann nichts dafür. Du kennst meine Eltern nicht. Du weißt nicht, wie sehr sie meine Schwester geliebt haben.«
    »Nein? Ich weiß

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