Lost Girl. Im Schatten der Anderen
schenkte mir ein schönes neues Handy. Sie deutete an, dass sie Ray die Schuld an dem Unfall gebe. Er saß am Steuer. Außerdem gab sie mir zu verstehen, dass sie mich trotz dieser Gefühle nicht daran hindern werde, ihn zu sehen. Ein wenig zögernd fragte sie mich nach ihm. Wie geht es ihm? Hat er sich von dem Unfall erholt? Sie weiß, dass er sich einiges gebrochen hat. Gehen wir zusammen aus? Warum lade ich nicht Sonya und Jaya zu mir ein? Sie will mich nicht drängen, aber es ist ihr wichtig. Sie will mehr von der Tochter sehen, die sie kannte, will in ihrem Glauben bestärkt werden, dass Amarra noch da ist.
Sie wird begeistert sein zu hören, dass ich am Samstag mit Ray ausgehe. Ich starre das Foto angestrengt an, als könnte es meine Fragen beantworten.
Kann ich ihn lieben?
Mit der Liebe ist das nicht so einfach. Sie ist nicht bloß ein Wort, das ich beliebig verwenden kann.
Ich denke an Sean. Ich vermisse ihn so sehr, dass es wehtut. Ich spüre eine Sehnsucht, die im Bauch anfängt und von dort zum Hals hinaufkriecht. Er ist mein bester Freund, mein einziger wirklicher Freund. Aber war er je mehr als das? Wir hatten so viele Beinahe-Momente. Aber er hat klargestellt, dass er die Gesetze nicht brechen werde.
Es kann nicht so weitergehen. Ich muss aufhören, mich in die Vergangenheit zu flüchten und mich an mein altes Leben zu klammern, an meine Vormunde und Mina Ma und Sean. Ich bin jetzt hier, bin jemand anders. Ich muss besser werden.
Über mir ertönt ein Geräusch. Ich blicke nach oben. Wir wohnen in einem alten Haus aus der Kolonialzeit und man hört hier jedes Knarren und Knacken. Diesmal klang es, als käme es vom Dachboden. Dort war ich noch nicht.
Ich verlasse mein Zimmer und gehe zur Treppe. Die Stufen knarren nicht unter meinen Füßen, ich war immer ungewöhnlich leichtfüßig. Vor der Tür zum Dachboden bleibe ich stehen. Sie ist angelehnt und ich höre, wie sich drinnen etwas bewegt: Jeansbeine, die aneinanderreiben, Füße, die über den Dielenboden tappen. Ich spähe durch den Türspalt.
Dort sehe ich wunderschöne Bilder. Gemälde in leuchtenden Ölfarben: Meerjungfrauen, Sonnenuntergänge und schwarze Piratenschiffe auf düsteren Meeren. Auf einer Klippe steht eine Frau und blickt wartend zum Horizont. In mir regt sich Abenteuerlust. Ich stelle mir vor, wie ich auf das offene Meer hinausfahre und mein Schicksal selbst in die Hand nehme. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich tollkühn mit Schwert und Entermesser kämpfen und ich sehe die Narben, die ich davontrage. Ich stelle mir vor, wie ich nach einem langen, anstrengenden Tag ins Bett falle und mit unbändiger Leidenschaft jemanden küsse. Ich meine, Lippen an meiner Armbeuge zu spüren, und frage mich, woher diese Erinnerung kommt.
Ich betrachte wieder die Frau und den leeren, grauen Horizont und fühle einen Stich in der Brust, als wäre ich diese Frau und als wären es mein Rock und mein Haar, die da im Wind wehen. Ich blinzle ein paarmal, um wieder aus der Welt des Bildes aufzutauchen, und stelle fest, dass die Frau Alisha verblüffend ähnlich sieht. Sie steht einfach da und blickt ins Leere. Wartet darauf, dass jemand kommt. Ich? Alisha wünschte sich Amarra so sehnsüchtig zurück.
In dem Raum stehen auch Skulpturen. Eine griechische Göttin, die Trauben in der Hand hält, ein Liebespaar, nicht sterblich, nicht unsterblich, sondern jeglicher Zeit entrückt, miteinander verschmolzen und mit Kronen aus Laub und Zweigen in den Haaren. Die verschiedenen Skulpturen bestehen aus Ton, Marmor und Pappmaschee. Kein Wachs, aber das war ja auch immer nur eine Art Spleen von mir. Große Vögel aus Papier. Ich frage mich, ob sie mich auf ihrem Rücken tragen könnten, ob wir in die höchsten Höhen des Himmels aufsteigen könnten, bis die Sterne uns verschlucken. Oder brauche ich dazu eigene Flügel?
Inmitten all dieser schönen Dinge und der Geschichten, die sie erzählen, steht Alisha und sieht selbst wie ein Kunstwerk aus. Sie geht vor einer Staffelei hin und her. Auf ihrem Gesicht liegt absolute Konzentration, was sie noch schöner macht als sonst.
Am liebsten würde ich tagelang hier an der Tür stehen und die Vollkommenheit dieses Anblicks in mich aufsaugen. Ein Blick genügt dafür nicht, aber ich will auch nicht, dass Alisha mich sieht.
Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer bleibe ich in dem Lichtschein stehen, der aus Neils Arbeitszimmer fällt. Er sitzt an seinem Schreibtisch, hat die Brille auf die Nase geschoben und
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