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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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kompakte, stupsnasige Art ist es attraktiv. »Feinfühlig wie immer, Sam«, sagt es mit einer hohen, klaren Stimme. »Du strotzt geradezu vor Taktgefühl.«
    »Das musst ausgerechnet du sagen«, spottet ein weiterer Junge gutmütig. »Du weißt ja nicht mal, was Taktgefühl ist.«
    »Habe ich das arme Mädchen sofort angequatscht? Ich weiß, wie man sich benimmt – im Gegensatz zu einigen anderen Leuten –, Sam. Jemanden so früh am Morgen schon mit Fragen zu bombardieren! Vor Mittag kriege ich noch nicht einmal die Grundrechenarten auf die Reihe.«
    Ich verdrücke mich und suche in meinem Gedächtnis nach ihren Namen. Der Junge heißt Sam. Samir. Das Mädchen? Lekha. Jetzt fällt es mir ein. Auf dem Klassenfoto hat sie das Kinn in die Hände gestützt. Ihre Augen funkeln belustigt. Beide spielen in Amarras Tagebuch keine große Rolle, aber hier kennt jeder jeden.
    Nikhils Tipp mit der gelben Tür hilft. Ich hole noch einmal tief Luft und trete ein. Die meisten der dreiundzwanzig Schüler aus Amarras Klasse sitzen schon an ihren Plätzen. Ich mache mich darauf gefasst, dass sie mich gleich belagern werden.
    Ein Mädchen mit einem spitzen Gesicht und aufgeweckten Augen kommt auf mich zu. »Hallo«, sagt sie. Ihre Stimme ist laut. Ich zucke zusammen. Bestimmt sehen jetzt alle her. »Du erkennst mich doch?«
    Was für eine seltsame Frage. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ahnt sie etwas?
    »Sonya«, sage ich.
    »Jippie!«, ruft sie glücklich und umarmt mich. »Ich wusste es.« Ich starre sie mit gerunzelter Stirn an. »Deine Mom hat es uns gesagt«, erklärt sie. »Das mit der Kopfverletzung. Sie meinte, du hättest Schwierigkeiten, dich zu erinnern, und wir müssten Geduld haben. Aber ich wusste, uns würdest du doch niemals vergessen.« Ihre Lippen zittern. »Ich habe furchtbar geweint, als ich von dem Unfall hörte. Bist du wieder ganz gesund?«
    So unglaublich es klingt, Alisha hat offenbar vorgesorgt, damit ich mich nicht so schnell verrate, falls ich Fehler mache. Amarra verhält sich seltsam? Daran ist ihre Kopfverletzung schuld. Amarra kann sich an etwas Wichtiges nicht erinnern? Sie hat Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis.
    Ich räuspere mich und suche nach einer Antwort, wie Amarra sie gegeben hätte. »Klar, geht schon wieder.« Mehr fällt mir nicht ein.
    Es klingt ziemlich dürftig. Ich muss mich zusammenreißen, besser reagieren und mich daran gewöhnen zu lügen.
    »Komm«, sagt Sonya, »setz dich doch und entspann dich erst mal. Deine Mom bringt mich um, wenn du hier umkippst oder so was.«
    Wir setzen uns auf Amarras und Sonyas Plätze in der letzten Reihe. Es gibt keine feste Sitzordnung, aber die Schüler haben ihre Lieblingsplätze und behalten sie das Jahr über meist bei. Auf Amarras Pult sehe ich Bleistiftkritzeleien, Botschaften, die Sonya, Amarra und Jaya ausgetauscht haben – und am Rand der Platte sind die Namen Amarra und Ray in das Holz eingeritzt, dazwischen ein ziemlich windschiefes Herz.
    Ich schlucke. Amarra war nur ein Mädchen, das herzzerreißend alberne Dinge tat, wie den Namen seines Freundes in sein Pult zu ritzen. Dann verschwand es und keine seiner Freundinnen weiß, dass es nie mehr zurückkehren wird.
    Ich habe Glück, ich brauche nicht viel zu sagen. Das meiste erledigt Sonya für mich. Sie wirft Bücher auf ihr Pult und redet dabei ununterbrochen. »Hast du Ray gesehen? Er sieht furchtbar aus. Geschieht ihm recht, ich meine im Ernst, er hätte dich fast umgebracht! Du hast noch nicht mit ihm gesprochen, oder? Deine Mom wollte nicht, dass wir dich besuchen, du solltest dich erst einmal erholen, das galt vermutlich auch für Ray. Sie ist nicht besonders gut auf ihn zu sprechen. So ein Blödarsch. Ist dein Handy noch kaputt? Ich will nicht immer bei dir zu Hause anrufen.«
    »Ich glaube, ich bekomme diese Woche ein neues.«
    »Ein Glück. Weißt du eigentlich, wie sehr ich es vermisse, jeden Abend stundenlang mit dir zu quatschen?«
    Ich kann mein Entsetzen gerade noch verbergen. »Klar weiß ich das«, sage ich und reibe meine feuchten Hände an den Knien ab. Mein Geheimnis kann jeden Moment auffliegen. Kopfverletzungen bewirken zum Beispiel nicht, dass man plötzlich eine viel hellere Haut hat – ein Leben im verregneten England dagegen schon. Und Amarras Aussprache war meiner zwar immer ganz ähnlich, aber in der Wortwahl ähnelte sie mehr Sonya. Ich weiß nicht, ob mir ein Wort wie »Blödarsch« über die Lippen kommen würde.
    Sonya plaudert munter weiter.

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