Lost Girl. Im Schatten der Anderen
»Amarra, wir beide müssen uns wirklich ernsthaft darüber unterhalten, was das mit diesem Unfall sollte. Ich will ja nicht sentimental werden, aber ohne dich ist die Welt nur halb so schön, kannst du solche Dummheiten also in Zukunft bitte sein lassen?«
Ich bringe kaum ein Wort heraus. »Okay«, piepse ich und grinse angestrengt, »versprochen.«
Dann muss ich es ihr mit ineinander verhakten kleinen Fingern noch einmal versprechen. Ich gehorche, aber die Kiefer tun mir weh, so sehr muss ich das Verlangen unterdrücken, mich auf der Stelle zu übergeben. Ich reiße mich zusammen. Ich muss da durch.
»Warum setzt sich Ray nicht zu uns?«, fragt Sonya ein wenig zu laut. »Merkwürdig. Er stand an der Tür und hat dich angestarrt, als könnte er nicht glauben, dass du es wirklich bist. Richtig komisch hat er dich angesehen und sich dann dort in die Mitte gesetzt.« Ich muss meine ganze Willenskraft aufbringen, mich nicht nach Ray umzudrehen. »Ob er glaubt, dass du wegen des Unfalls auf ihn sauer bist? Oder macht er sich Vorwürfe? Ich wäre nicht überrascht, wenn er den Helden mit schlechtem Gewissen spielte und dir sagte, er sei zu gefährlich für dich.« Bevor ich etwas antworten kann, strafft Sonya sich kaum merklich. »Mist, sie kommt.«
Eine Lehrerin tritt ein, Mrs Singh, die nur aus Haut und Knochen und einem mürrischen Gesicht besteht. Sie ist die Klassenlehrerin der elften Klasse und unterrichtet englische Literatur. Beliebt ist sie nicht. Laut Amarra ist sie zu streng und hat einen ziemlich abartigen Humor.
Alle setzen sich und es wird leise. Mrs Singh schlägt das Klassenbuch auf. Sie liest die Namen vor, macht hin und wieder eine trockene Bemerkung und äußert ernste Zweifel an Sonyas Behauptung, Jaya sei heute krank. Als sie zu Amarras Namen kommt, holt sie hörbar Luft. »Oh«, sagt sie, »wie ich sehe, bist du wieder gesund, Amarra. Schön, dass du da bist.« Sie klingt nicht, als freute sie sich, überhaupt irgendjemanden von uns zu sehen.
Wahrscheinlich sollte ich dafür dankbar sein. Wenn sie wüsste, was ich bin, hätte sie vielleicht gesagt: »Tja, Kinder, ihr habt Amarras Echo bestimmt schon bemerkt. Denkt dran, wir müssen es behandeln, als sei es die liebe Amarra, die leider verstorben ist, und nicht das Monster, das es in Wirklichkeit ist, das Monster, das anderen das Leben stiehlt. Verstanden?«
Als sie meinen Namen sagt, erstarrt ein schwarzhaariger Junge zwei Reihen vor mir. Er dreht sich um und blickt mich an, aber sobald unsere Blicke sich begegnen, wendet er sich hastig wieder nach vorn. Nur ganz kurz sehe ich sein Profil. Es ist makellos wie das einer Marmorstatue.
Ray.
Warum sitzt er dort? Ich wische mir die feuchten Hände wieder an meinen Jeans ab, die der Kleiderordnung der Schule entsprechen, und wünsche mir, ich könnte seine Gedanken lesen. Ich habe keine Ahnung, warum er nicht gleich zu Amarra gegangen ist und sie an sich gedrückt und umarmt hat. Es sei denn, er weiß, dass ich nicht das Mädchen bin, das er geliebt hat.
Ich schlucke hart und versuche meinen Puls zu beruhigen. Vielleicht hat er auch einen anderen Grund. Vielleicht traut er sich nicht, mich anzusprechen, weil er sich die Schuld an dem Unfall gibt, wie Sonya vermutet. Vielleicht denkt er, dass Amarra ohne ihn besser dran ist. Sonya scheint solche Ängste immerhin für möglich zu halten.
»Genug getrödelt«, sagt Mrs Singh und schlägt das Klassenbuch mit einem Knall zu. »Wer Wirtschaftskunde hat, verlässt das Klassenzimmer. Mr Fernandes ist heute nicht in der Schule, ihr habt Vertretungsunterricht. Wer Literatur gewählt hat, bleibt hier – Karan, zieh deine Hose bitte hoch. Es muss wirklich nicht sein, dass du den Hosenbund unter dem Hintern hängen hast.«
»Ich habe blöde Wirtschaftskunde«, sagt Sonya zu mir. »Kommst du allein zurecht?«
Ich nicke. Sie sammelt ihre Sachen ein und verschwindet mit der Hälfte der Klasse. Ich lese Amarras Stundenplan und präge ihn mir noch einmal ein. Eine Doppelstunde Literatur, dann Pause, gefolgt von einer Doppelstunde Erdkunde, Mittagessen, zwei Freistunden und noch einer Stunde Englisch. Ich weiß, was Amarra vor ihrem Tod gelernt hat. Ich habe es ebenfalls gelernt.
Ich suche in Amarras Tasche, bis ich Macbeth und Sturmhöhe finde, außerdem ihr Heft und die Schlüssel zu ihrem Spind, in dem sich die restlichen Sachen befinden. Die Schüler und Schülerinnen, die noch da sind, tun dasselbe. Ich registriere, wie sie sich die Haare hinter die
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