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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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betrachtet einige Papiere. Ich denke daran, wie oft Amarra geschrieben hat, sie habe mit ihrem Vater zusammengesessen. Heute haben wir uns mit dem Untergang Roms beschäftigt. Ich habe im Arbeitszimmer einen alten Dolch poliert. Dad erzählte mir von den Kreuzzügen. Amarra liebte diese Zusammenkünfte.
    Ich überlege, ob ich hineingehen soll. Ob es Neil tröstet, wenn das Echo seiner Tochter ihm Gesellschaft leistet? Er sieht auf, als hätte er meinen Blick gespürt, und wirkt überrascht.
    »Komm rein«, sagt er freundlich.
    Ich nicke und trete ein. Er zeigt auf den Stuhl neben sich und zeigt mir die Papiere.
    »Das sind Kopien von Briefen, leider nichts besonders Aufregendes.« Er hält eine Lupe hoch. »Ich komme leider sehr langsam voran, weil meine Augen sich nur kurze Zeit auf die kleinen Buchstaben konzentrieren können.«
    »Wenn du willst, lese ich sie dir vor«, biete ich an.
    Neil überlegt. »Ich glaube, wir wissen beide, dass du das bald langweilig fändest.«
    »Nein«, setze ich an. »Wirklich, ich …«
    »Ich bin Amarras Vater«, unterbricht er mich leise. »Glaub mir, ich würde sie erkennen, wenn sie vor mir stünde.«
    Ich will etwas sagen, bringe aber nichts heraus.
    »Du hast andere Angewohnheiten und bewegst die Hände anders«, sagt er, »und du benutzt andere Wörter. Ihr Lächeln gelingt dir gut, aber irgendetwas stimmt daran trotzdem nicht. Du hast dieselbe Stimme, aber wenn man aufmerksam hinhört, klingt sie doch anders.«
    Ein wenig traurig fügt er hinzu: »Mir fehlt die Fantasie. Meine Schwestern und ich waren als Kinder oft in Zaubervorstellungen. Während meine Schwestern begeistert waren, habe ich die Tricks immer durchschaut. Amarra war genauso. Sie betrachtete die Welt auf nüchterne Weise und durchblickte den ganzen Hokuspokus, den so viele von uns veranstalten.«
    »Und Nikhil?«, frage ich.
    Neil lächelt schwach. »Versteht mehr, als ihm selbst guttut. Er sieht klarer als wir alle. Zugleich ist er ein Träumer wie seine Mutter. Er sieht vieles, fühlt aber noch viel mehr.«
    Mir fällt unwillkürlich auf, wie Neil immer wieder vergleicht. Amarra war wie er, Nik ist ein Träumer wie seine Mutter. Wahrscheinlich ohne es wollen, betont er die Ähnlichkeiten zwischen ihnen, die vielen Verbindungen zwischen ihren Charakteren und Eigenarten. Er zeigt mir, dass sie eine Familie sind und ich nicht dazugehöre.
    »Ich tue, was ich kann«, sage ich.
    »Daran zweifle ich nicht«, sagt er freundlich. »Ich will dich auch nicht kritisieren. Aber ich bin zu nüchtern veranlagt, als dass ich über all das einfach hinwegsehen oder hinweghören könnte. Ich hätte versuchen können, mir einzureden, dass ich Amarra vor mir habe, aber es ist nicht meine Art.«
    Ich sehe ihn hilflos an und bin einerseits gekränkt, weil er mich so pauschal ablehnt. Zugleich habe ich unwillkürlich Respekt vor ihm. Er will mich nicht kränken, er hat nur seine Tochter geliebt.
    »Gib mir eine Chance«, sage ich. Es soll nicht vorwurfsvoll klingen. Ich spreche ruhig und gefasst wie Amarra. »Vielleicht kann ich dich überzeugen.«
    »Okay«, sagt er.
    Ich wende mich zum Gehen.
    »Hast du einen Namen?«, fragt er zu meiner Überraschung.
    »Du wolltest mir doch eine Chance …« Ich verstumme.
    Ein trauriges Lächeln lässt sein Gesicht noch schmaler wirken. »Ist es nicht eine Frage der Höflichkeit, dass ich dich mit deinem eigenen Namen anrede, bis ich meine Meinung ändere?«
    Er hat Recht.
    »Eva«, sage ich.
    Er nickt. »Du bist für uns wichtig. Auch wenn ich nicht glauben kann, dass meine Tochter überlebt hat, wie meine Frau es tut, gibst du uns doch Hoffnung, dass es etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt. Deshalb wollten wir dich ja überhaupt haben, um den Verlust zu mindern.«
    Ich betrachte ihn forschend. Er behauptet zwar, er halte seine Tochter für tot, aber ganz lässt er sie trotzdem nicht gehen. Sie ist immer noch da, in allem, was er tut.
    Ich kehre in Amarras Zimmer zurück und starre auf die Schlange auf meinem Handgelenk. Am liebsten würde ich mir das Tattoo aus der Haut reißen und auch alles andere abstreifen, was Amarra getan hat und ich ebenfalls tun musste. Ich blicke in den Spiegel. Blickt Amarra mir entgegen? Was ist das für eine Macht, die die Toten über die Hinterbliebenen haben? Die fortdauernde Liebe für Menschen, die man verloren hat, ist etwas merkwürdig Schönes und zugleich Furchteinflößendes.
    »Wo bist du?«, frage ich Amarra. »Du bist nicht wirklich weg, oder? Ich

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