Lost Girl. Im Schatten der Anderen
dachte nur, vielleicht gibt es Dinge, die neu für dich sind.«
»Das mit dem Wasserspender wusste ich nicht«, sage ich leise. »Danke.«
Nikhil wird nie Amarra in mir sehen, gibt er mir damit zu verstehen. Er erinnert mich an Sean, nicht vom Aussehen her, sondern in seinem Verhalten. Auch er verhält sich erwachsener, als es seinem Alter entspricht. Der Gedanke an Sean tut mir so weh, dass ich mich abwenden muss.
Dann habe ich mich wieder im Griff und lächle Nikhil an. Er merkt es entweder nicht oder ignoriert es. Ich komme auf das Wetter zu sprechen. Erzähle, dass ich eine solche Hitze noch nicht erlebt habe.
»Nik«, fragt Sasha, »spielst du Engelchen flieg mit mir?«
»Klar.«
Nikhil streckt die Hand aus und Sasha ergreift sie. Mit der anderen Hand nimmt sie meine. Dann hängt sie sich an unsere Arme, kichert und strampelt mit den Beinen. Auch ich muss lachen, und selbst über Nikhils Gesicht huscht ein verstohlenes Grinsen. So kommen wir an der Bushaltestelle an.
Die Busfahrt ist weniger anstrengend, als ich erwartet habe. Sie verschafft mir noch ein wenig Zeit, mich auf die Ankunft in der Schule vorzubereiten. Ich weiß, dass Amarras Freundin Jaya mit demselben Bus fährt. Heute ist sie offenbar nicht da, ich würde sie erkennen. Glatte Haare, ein freundliches Gesicht, die Umgänglichste von allen. Eine weitere Freundin ist Sonya, die ihre Nase nicht leiden kann. Sie ist laut und lebhaft – und war schuld an meinem schiefen Pony. Noch einige weitere Namen tauchen ständig in Amarras Tagebuch auf. Und natürlich Ray.
Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht in den warmen Luftzug, der durch das Busfenster weht. In England ist die Luft anders, weniger drückend, weniger schwül und salzig. Die Stadt zieht an uns vorbei, Staub, Beton und Bäume. Am Straßenrand bieten Händler ihre Ware feil. Maiskolben, grüne Mangos, Kokosnüsse und dicke, in Zeitungspapier gewickelte und mit Limone und Chilipulver gewürzte Stachelbeeren. Ich spüre jedes Mal ein Kribbeln auf der Zunge und stelle mir vor, die verschiedenen Geschmäcker zu erleben.
Da ich nie zur Schule gegangen bin, weiß ich nicht, wie ich mit der Klasse und der Schulatmosphäre zurechtkommen werde. Ich wünsche mir einen Ratgeber, eine Betriebsanleitung.
Plötzlich bilde ich mir ein, dass Sean neben mir sitzt. Er stützt seine jeansblauen Knie gegen die Lehne des Sitzes vor uns und seine Augen funkeln belustigt.
»Wenn du mich ganz lieb darum bittest«, sagt er, »schreibe ich vielleicht ein Stück darüber. Das wäre bestimmt der Hit, was? Ein Ratgeber-Theaterstück.«
Ich drehe den Kopf wieder zum Fenster. In meinen Augen brennen Tränen. Blind greife ich nach dem Muschelarmband an meinem Handgelenk. Es zu berühren hilft mir.
Bei unserer Ankunft in der Schule bewege ich mich wie in Trance und folge Bildern in meinem Kopf. Es ist nicht schwer, sich auf dem Schulgelände zurechtzufinden. Es ist liebevoll angelegt, mit Innenhöfen und Bäumen und einem großen, grünen Fußballfeld. Das Gras ist zu lang und von vielen Füßen niedergetrampelt worden. Spatzen fliegen über uns hinweg und verschwinden am Himmel. Neidisch sehe ich ihnen nach. Kann man für immer spurlos verschwinden, wenn man schnell und weit genug fliegt?
Ich finde den Weg zur Highschool, einem von Klassenzimmern umgebenen Hof. Eine Treppe führt zu einer offenen Terrasse hinauf. Alles ist von Licht und Farben erfüllt.
Überall sind Schüler in meinem Alter. Sie plaudern, lachen, verschwinden in Klassenzimmern oder tauchen daraus auf, um in aller Eile noch die Hausaufgaben vom Vortag zu machen. Ich habe feuchte Hände und schwitze im Nacken. Einige der Gesichter in meiner Umgebung kenne ich von Fotos.
»Amarra!«
Ich bleibe stehen und drehe mich um.
»Da bist du ja wieder«, sagt ein Junge wenige Schritte vor mir. »Wir dachten, du würdest länger fehlen, so wie deine Mutter sich anhörte. Aber du siehst okay aus, man sieht ja gar keine Verletzungen oder sonst was. Bist du wieder ganz gesund?«
Ich nicke.
»Cool«, sagt er. »Freut mich.« Er wendet sich an seine Freunde, von denen die meisten ihn böse anstarren.
»Hast du nicht was von schweren Verletzungen und Narben erzählt?«, ruft einer empört. »Sollte das ein Witz sein?«
Der Junge zuckt mit den Schultern.
Ein Mädchen, das auf dem Boden hockt und in seiner Schultasche nach etwas sucht, hebt den Kopf. Es hat dicke, lockige Haare und runde Augen, die mich an die eines Vogels erinnern. Auf eine
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