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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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immerhin, dass sie mich deswegen in Auftrag gegeben haben.«
    Nikhil lächelt.
    Wir wollen gerade die Stufen zum Bus hinaufsteigen, da halte ich abrupt inne, als wäre ich gegen eine Mauer gerannt. Wenige Schritte neben mir steht Ray. Er beugt sich zu Sasha hinunter und spricht mit ihr. Mein Herz rast in Panik und ich umklammere den Riemen meiner Schultasche. Sasha weiß, dass ich nicht Amarra bin. Sie nennt mich zwar so, weiß aber Bescheid. Wenn Ray sie nun fragt? Wenn sie ihm von meinen »Ferien« erzählt und von meiner geheimnisvollen Ankunft zusammen mit einem fremden Mann?
    »Sash!«, ruft Nik und ich werde vor Erleichterung fast ohnmächtig. »Komm, wir müssen einsteigen!«
    »Okay«, sagt Sasha fröhlich. »Tschüss, Ray!«
    Ray sieht zu, wie die beiden einsteigen, dann richtet er den Blick auf mich.
    Ich stehe da wie gelähmt und weiß nicht, was ich tun soll. Instinktiv will ich weglaufen, aber ich weiß, dass Amarra das nicht tun würde.
    Ray sieht mich traurig und verwirrt an. Ich kenne das inzwischen schon, die Blicke, mit denen die anderen Menschen in meinen Augen nach Amarra suchen. Ich gebe mich entspannt, ein wenig schüchtern, aber glücklich. Es fällt mir wahnsinnig schwer. Ray sucht in mir nach Amarra und ich habe entsetzliche Angst, er könnte merken, dass sie nicht da ist.
    Ich weiß, was ich eigentlich tun sollte. Ihn zu küssen, bringe ich nicht fertig, aber ich könnte zu ihm gehen und ihn berühren. Nur weiß ich nicht, ob ich das überhaupt will. Ich weiß nicht, was ich ihm gegenüber empfinden soll.
    Ich entscheide mich für einen Kompromiss, indem ich einfach stehen bleibe.
    »Du weichst mir aus«, sage ich.
    Auf seinem Gesicht zeigen sich widersprüchliche Gefühle: Erleichterung, Freude und Verwirrung.
    »Ich dachte, du bist vielleicht wütend auf mich«, sagt er. »Du hättest tot sein können.«
    Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Amarras Lächeln, das ich anhand von Fotografien geübt habe. »Ich bin nicht wütend.«
    »Aber du solltest es sein. Es tut mir schrecklich leid.«
    »Es war ein Unfall«, erinnere ich ihn. Was die Wahrheit ist, schließlich war ich dabei. Ich habe zugesehen, wie Amarra starb.
    Ray tritt von einem Bein aufs andere. »Geht es dir besser? Ich habe das mit deinem Kopf gehört …«
    »Ich habe Gedächtnislücken«, sage ich. Mir bleibt keine andere Wahl. »Vor allem im vergangenen Jahr. Ich kenne dich. Ich weiß, dass wir … also du und ich … na ja, du weißt schon. Wir waren zusammen. Aber so vieles liegt im Dunkeln und die Ärzte sagen, es kann Wochen dauern, bis die Erinnerung zurückkommt. Ich … ich kann mich einfach nicht so gut an uns erinnern, wie ich es sollte.«
    Mein Herz rast und ich habe Angst, ohnmächtig zu werden. Die Worte sprudeln viel zu schnell aus mir heraus, aber Ray stellt keine Fragen.
    »Tut mir leid«, füge ich leise hinzu.
    »Schon okay«, sagt er und nimmt behutsam meine Hand. Ich schlucke. »Wir könnten ja irgendwann in dieser Woche zusammen ausgehen, einfach nur, um zu reden. Du kannst mich alles fragen. Amarra«, sagt er und seine Stimme klingt so zärtlich. Er will so unbedingt alles glauben, was ich sage, dass es eine Qual für mich ist. »Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Wir müssen nicht dort weitermachen, wo wir waren. Wir können noch einmal anfangen, wenn du willst.«
    Genau deshalb bin ich hier. Genau dafür wurde ich geschaffen. Amarra hat Ray geliebt und ich muss dieser Liebe eine Chance geben.
    Nur eine Antwort kommt infrage.
    »Ja«, sage ich, »das würde ich gern.«
    Rays Miene hellt sich auf. Ich habe solche Schuldgefühle, dass es mich fast zerreißt.
    »Samstag?«, fragt er.
    Ich nicke.
    »Okay.« Er sieht zum Bus. »Steig lieber ein, sonst fährt er ohne dich ab.« Er küsst mich auf die Wange, so leicht, dass ich nur den Hauch seiner Lippen spüre. Ich werde rot.
    Ich strecke die Hand nach dem Griff neben den Stufen aus, aber bevor ich einsteige, sagt er noch: »Amarra?«
    »Ja?«
    »Bist du es wirklich?«
    Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
    Lügen.
    Ich muss.
    Lügen.
    Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Bis morgen«, sage ich und steige ein.

5. Glas
    N ach dem Abendessen sitze ich an Amarras Schreibtisch und betrachte ein Bild von Ray, das sie an die Wand gepinnt hat. Es handelt sich um dasselbe Bild, das Erik mir vor einigen Monaten gegeben hat. Kann man lernen, jemanden zu lieben, indem man immer wieder ein Bild von ihm ansieht?
    Vor einer Weile kam Alisha leise ins Zimmer und

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