Lost Girl. Im Schatten der Anderen
hatte mir eingebildet, ich könnte frei sein, wenn du tot bist. Aber das kann ich nicht, du hältst mich gefangen. Ich muss dein Leben führen und dabei mehr du sein, als du selbst es je warst. Lachst du? Gratuliere, du bist zwar tot, aber trotzdem noch da. Ganz bestimmt lachst du jetzt …«
Am nächsten Tag ist Jaya wieder in der Schule. Mir bleibt nichts übrig, als mich im Bus neben sie zu setzen. »Hallo, du«, sagt sie und streckt die Arme aus, um mich zu umarmen. Ich spüre einen Kloß im Hals. Sie freut sich so sehr, mich zu sehen, und ist so aufrichtig besorgt. Es ist furchtbar.
»Hallo«, sage ich. Fast frage ich, ob es ihr wieder besser gehe, aber in letzter Sekunde fällt mir ein, wer ich bin. »Wieder alles klar bei dir?«, frage ich stattdessen. »Oder wolltest du gestern nur die Klassenarbeit schwänzen?«
Sie lacht. »Ach bitte, das ist Sonyas Ding. Nein, mir geht es gut. Und dir?«
»Ich …« Ich höre mich die Wahrheit sagen. »… fühle mich noch ein wenig zittrig.«
Jaya nickt. »Natürlich! Du hattest ja auch einen schrecklichen Unfall. Bestimmt brauchst du noch eine Weile, bis du wieder ganz fit bist.«
Sie ist so verständnisvoll und entschuldigt mein Verhalten so schnell, dass ich mich nur noch schuldiger fühle. Wenn sie wüsste!
Später am Tag, in der Mittagspause, setzt sich jemand auf den Stuhl mir gegenüber neben Jaya. Ich blicke auf und das Herz schlägt mir bis zum Hals: Ray.
Oh Gott, wie soll ich mit allen dreien zur selben Zeit fertig werden, ohne einen Fehler zu machen?
»Hallo«, sagt er und lächelt uns nacheinander an. Auf mir verweilt sein Blick länger. Ich gucke weg. Sein hoffnungsvoller, mitfühlender Gesichtsausdruck ist zu viel für mich. Ich muss immer wieder daran denken, wie glücklich er ausgesehen hat, als ich zustimmte, am Wochenende mit ihm auszugehen. Oder wie er mich gefragt hat, ob ich wirklich Amarra sei.
Warum fragt er das? Wer sollte ich sonst sein?
»Du?«, brummt Sonya und wirkt so erstaunt und verärgert, dass es schon wieder lustig ist. »Was willst du denn hier?«
»Mit euch zu Mittag essen«, sagt Ray. »Isst du deine Tomate etwa nicht? Darf ich?« Er zieht die Tomate aus Sonyas Sandwich heraus, bevor Sonya etwas sagen kann. Sie läuft so rot an, dass es schon besorgniserregend ist, und ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Es ist klar, dass Ray sich einen Spaß daraus macht, sie zu ärgern.
»Warum ausgerechnet mit uns?«, fragt Sonya. »Ich dachte, du magst mich nicht!«
»Stimmt«, sagt er. »Aber eine halbe Stunde mit dir halte ich schon noch aus.«
»Ich mag dich aber auch immer noch nicht, wie du dir sicher denken kannst.«
Ray hört ihr nicht mehr zu, sondern kneift Jaya in die Nase. »He, Jay-Jay, haben wir gestern die Klassenarbeit geschwänzt, ja?«
Jaya verdreht die Augen und muss gegen ihren Willen kichern. »Hau ab, Ray«, sagt sie, wenn auch freundlich.
»Ja, genau«, sagt Sonya.
»Fragen wir doch Amarra, was sie meint.«
»Das wissen wir schon«, sagt Sonya gereizt. »Amarra ist es immer egal, wer bei uns sitzt, bilde dir also bloß nicht ein, du seist etwas Besonderes, nur weil sie nichts gegen dich hat. Aber wir brauchen auch Zeit für uns, ohne Jungs.«
»Dann hängt doch in der Mädchentoilette ab«, schlägt Ray vor. »Da traue ich mich als Mann garantiert nicht rein, ich schwör’s.«
»Du willst ein Mann sein?«
»Soll ich es dir beweisen?«
Jaya und ich lachen. Es geht einfach nicht anders, ich muss trotz aller Anspannung lachen, als Ray so tut, als wollte er die Hose öffnen, und Sonya sich kreischend die Augen zuhält. Dann überlegt Ray es sich anders, er zwinkert mir zu und isst dann weiter. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich ihn nicht pausenlos anstarre. Offenbar habe ich mehr von Amarras Hormonen, als ich dachte.
Als die Glocke läutet und die Mittagspause beendet, frage ich mich, ob die Verabredung mit Ray am Samstag ein Fehler war. Vielleicht wäre es sicherer, sich zu drücken und zu sagen, ich hätte Kopfweh und bräuchte noch Zeit. Die Gefahr wäre nicht so groß, dass ich mich verrate. Schließlich hat er gefragt, ob ich wirklich Amarra bin. Ich wüsste zu gern, was er damit gemeint hat. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Ich spüre auf einmal wieder deutlich, wie gefährlich meine Situation ist. Die Illusion ist so zerbrechlich wie hauchdünnes Glas. Sie kann jeden Moment zerspringen und uns alle verletzen.
Als ich an diesem Abend nach Hause komme, will ich nur noch ins Bett, aber
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