Lost Girl. Im Schatten der Anderen
»Ach so, vielleicht erinnerst du dich nicht daran«, erklärt er. »Du hast dir immer einen Punkt gegeben, wenn du es geschafft hast, dass ich rot werde. Wir haben uns beide Punkte gegeben, aber du hattest viel mehr.«
Ich könnte so tun, als würde ich mich daran erinnern, aber es wäre nicht überzeugend. Stattdessen lächle ich und sage: »Vielleicht sollten wir noch mal bei null anfangen?«
Er streicht mir mit dem Daumen über die Wange, nur ganz kurz, dann zieht er die Hand wieder zurück, um mich nicht zu bedrängen.
»Entschuldige.«
»Wenn du dich noch einmal wegen des Unfalls entschuldigst, flippe ich aus«, sage ich, vielleicht etwas entschiedener, als Amarra es getan hätte. »Ich bin wieder gesund.«
»Man sieht dir auch gar nichts mehr an«, sagt er und etwas in seiner Stimme verunsichert mich. »Es grenzt wirklich an ein Wunder. Ich habe dich daliegen sehen, zwischen lauter Glasscherben. Ich wollte zu dir kriechen, muss dann aber wohl das Bewusstsein verloren haben. Da war so viel Blut. Nach dem Unfall hat es mich wahnsinnig gemacht, dass ich dich so lange nicht sehen durfte, erst wieder in der Schule, und dass ich nicht einmal mit dir reden konnte. Ich hatte solche Angst, du könntest schwer verletzt sein.« Ray bricht ab, als hätte er bemerkt, wie viel Kummer auf einmal in seiner Stimme liegt und in seinen Augen. Er überspielt es mit einem Lächeln. »Ich habe gedacht, dass du überall Schnitte und blaue Flecken und Narben hast. Aber du scheinst ja nicht einmal einen Kratzer abbekommen zu haben.«
Mein Herz rast und meine Kehle ist trocken. Ich muss ein-, zweimal schlucken. »Ich habe Schnitte«, sage ich und zwinge mich, seinem Blick standzuhalten, um das Misstrauen zu zerstreuen, das in seinen Augen aufscheint. »Aber die meisten sind an Stellen, an denen du sie nicht sehen kannst.«
Der Argwohn verschwindet aus seinem Gesicht. Ray ist immer noch verwirrt, scheint mir aber zu glauben. »Ich weiß.« Er zeigt auf die große Schiebetür. »Lass uns nach drinnen gehen, mir ist heiß.«
Die Klimaanlage ist ein Segen. Meine Haut kühlt ab, ich fühle mich weniger verschwitzt und gereizt und habe mich besser unter Kontrolle. Über Rays Stirn läuft eine letzte Schweißperle und rinnt an seinen fast schwarzen Augen vorbei die Schläfe hinunter. Ich muss ihn ständig ansehen, meine Augen wandern, wie magisch angezogen, immer wieder in seine Richtung. Keine Ahnung, ob das ein Überbleibsel von Amarras Gefühlen ist oder die Folge davon, dass mein Kopf mir ständig sagt, dass ich ihn lieben soll.
Liebe ihn doch einfach , flüstert eine schmerzhaft vertraute Stimme mir ins Ohr. Los .
Ich fahre herum. Sean klingt immer so wirklich.
»Amarra?«
Ich schlucke die albernen Tränen hinunter, die plötzlich in mir aufsteigen. »Tut mir leid«, sage ich, »ich dachte nur, da wäre jemand, den ich kenne.«
Ray mustert mich stirnrunzelnd und besorgt. »Alles okay?«
»Ja, wirklich.«
Es ist lächerlich. Schluss damit! Ich kann nicht Ray ansehen und mir wünschen, er wäre Sean. Ich darf nicht ständig an Sean denken. Die beiden gehören verschiedenen Welten an, die niemals zusammenstoßen dürfen. Ich bin Amarra, ich muss Amarra sein. Ich muss aufhören, an Sean zu denken, muss mein früheres Leben vergessen.
Ray streckt den Arm aus, als könnte er meine Gedanken lesen, nimmt behutsam meine Hand und schiebt seine langen Finger lose zwischen meine. Ich zucke unter seiner Berührung zusammen.
»Ist das okay?«
Ich nicke und ziehe meine Hand nicht zurück.
Er grinst. »Ich würde dich ja küssen, aber dann erschrecken vielleicht die alten Damen.« Zu meinem Ärger werde ich wieder rot. Rasch fügt Ray hinzu: »Ich würde natürlich nicht einfach so über dich herfallen und dich küssen. Ich weiß, du bist noch etwas wacklig auf den Beinen.«
»Weißt du, ich habe dich ja nicht ganz vergessen«, fühle ich mich gedrängt zu sagen. »Es fehlen nur ein paar kleine Puzzleteile, das ist alles.«
»Bist du sicher?«, fragt er herausfordernd und in dem Blick, den er mir zuwirft, liegt Verzweiflung. Mir wird heiß. Er sucht Amarra und ist nicht sicher, ob er sie in mir sieht.
»Ja«, antworte ich und drücke seine Hand, obwohl die Lüge mir fast im Hals stecken bleibt. »Ich weiß, dass ich mich verändert habe, aber das geht wieder vorbei.«
»Entschuldigung«, sagt er, »ich wollte dich nicht ärgern. Du benimmst dich nur irgendwie anders, und ich muss daran denken, was du gesagt hast …«
Er bricht
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