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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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ab.
    »Was habe ich denn gesagt?«, frage ich alarmiert.
    Er schüttelt den Kopf. »Egal, es ist nicht wichtig. Sollen wir etwas essen? Oder wir holen uns bei Airlines Dosas , wenn du willst.«
    »Hm …« Mein Blick wandert umher, am Aufzug vorbei, zum Stock über uns, wo ich das leuchtende Schild einer Crossword-Filiale entdecke. Ich war natürlich noch nie dort, aber ich habe in Amarras Berichten öfter davon gelesen und weiß deshalb, dass es sich um einen Buchladen handelt.
    Ray folgt meinem Blick und lacht. Ich merke, wie seine Anspannung ein wenig nachlässt, als hätte ich etwas getan, was ihn beruhigt.
    »Okay, also dorthin«, sagt er und zieht mich an der Hand. »Ich weiß, er ist dir heilig.«
    Eifrig folge ich ihm zum Aufzug. Amarra liebte Bücher genauso sehr wie ich. Sie hat gern gelesen und den Geruch des Papiers eingesogen. Für den E-Reader ihres Vaters hatte sie nur verächtliche Blicke übrig, E-Books waren für sie nur eine Mogelpackung, worüber ihr Vater lachen musste. Ich spüre ganz unerwartet einen Stich in der Brust. Trauer über den Verlust, Trauer um sie. Trotz allem.
    Zum ersten Mal denke ich, dass ich immer eine von zweien war. Eine Kopie, ein Trugbild. Ich hatte immer Amarra, selbst wenn ich sie hasste.
    Jetzt bin ich allein. Ein Einzelstück.
    Die Atmosphäre in der Buchhandlung wirkt beruhigend. Ich bin mehr ich selbst und gleichzeitig mehr Amarra. Auch Rays Misstrauen schwindet und die nächste Stunde vergeht wie im Flug. Er verdreht über meine Begeisterung die Augen, aber nur zum Spaß, und ich merke gar nicht, dass er meine Hand hält, während ich wie ein kopfloses Huhn durch den Laden renne. Ray will mir ein Buch kaufen, aber ich lehne ab. Ich rieche an den Buchrücken und er muss so heftig lachen, dass er sich verschluckt.
    Auch ich muss kichern und dann denke ich plötzlich an einen Zoo und wie ich einen Jungen an der Hand ziehe, an Popcorn und den Geruch der Elefanten unter einem wolkenlos blauen Himmel.
    Ich blinzele, um die Bilder in meinem Kopf loszuwerden, und verbanne die leuchtend grünen Augen aus meiner Erinnerung.
    Ray beobachtet mich und ich spüre wieder sein Misstrauen. Es kommt und geht und wird wahrscheinlich erst dann ganz verschwinden, wenn ich eine fehlerlose Amarra bin.
    »An was denkst du«, fragt er, »wenn du so in Gedanken versunken bist?«
    »Nichts«, sage ich ein wenig zu scharf.
    Er kneift die Augen zusammen. Ich frage mich, ob Amarra je in diesem Ton mit ihm gesprochen hat.
    »Es ist nur so …« Ich gerate vor lauter Panik ins Stocken und ringe um meine Fassung, während ich versuche, den Fehler wieder gutzumachen. »… mir fallen immer wieder Dinge ein, Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie vergessen hatte.«
    Ray schweigt lange und sieht mich forschend an. Ich kann nicht mehr sagen, es würde klingen, als suchte ich verzweifelt nach einer Entschuldigung. Ich denke an Neil, an seine Beschreibung, in welchen Dingen ich mich von Amarra unterscheide, und wieder steigt Panik in mir auf.
    Schließlich sagt Ray: »Dinge, die mit mir zu tun haben?«
    »Manchmal«, lüge ich mit einem sauren Geschmack auf der Zunge.
    Er zögert, dann küsst er mich auf die Stirn, und ich werde vor Erleichterung fast ohnmächtig. »Na gut, wenn es dir hilft«, neckt er mich, »ich denke auch nur ›manchmal‹ an dich.«
    »Lügner.«
    »Ja«, seufzt er, »bin ich.«
    Ich finde ein neues Buch, in das ich mich vertiefen kann. Meine Hände zittern immer noch ein wenig. Ray schüttelt den Kopf, grinst aber. Er scheint nichts gegen Bücher zu haben, aber an einem kalten, regnerischen Nachmittag wäre lesen bestimmt nicht seine erste Wahl. Dennoch bemüht er sich, meine Begeisterung zu teilen, und wenn er sich langweilt, versteckt er es gut. Wenn ich sehe, wie sehr er Amarra liebt, wächst mein schlechtes Gewissen. Zugleich bin ich auch ein wenig neidisch.
    Wenn er je herausfindet, dass ich ihn getäuscht habe, wird er furchtbar wütend und zutiefst verletzt sein. Er wird unendlich traurig sein, wenn er begreift, dass Amarra nicht mehr zurückkehrt.
    Und er wird mir nie verzeihen. Aus irgendeinem Grund macht mir das zu schaffen.
    Wenig später ruft Alisha an und sagt, dass sie jetzt in der Galerie fertig ist und mich abholen kann, wenn ich will. Ich sehe Ray an, der mit den Schultern zuckt, wie um zu sagen: »Das ist deine Entscheidung.« Amarra würde noch bei ihm bleiben wollen. Aber das Risiko ist zu groß. Je länger ich mit ihm zusammen bin, desto

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