Lost Girl. Im Schatten der Anderen
ich muss noch eine Weile Amarra spielen. Dann endlich kann ich mich für einige kostbare Stunden auf ihr Zimmer zurückziehen. Ich falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf, finde Frieden.
Am nächsten Morgen fängt alles wieder von vorn an.
Ich bringe den Rest der Woche hinter mich. Zu Mittag esse ich mit Amarras Freundinnen, manchmal mit ihrem Freund. Ich besuche Amarras Kurse und einige machen mir sogar Spaß. Ich lache und spiele mit ihrer Schwester. Die Schuldgefühle bleiben, aber ich spüre auch, dass ich Glück gehabt habe, denn mein neues Leben ist nicht so schlimm wie befürchtet. Die Tage gehen nahtlos ineinander über, ein Muster für die nächsten Wochen oder vielleicht Monate bildet sich heraus, und ich lerne täglich ein wenig mehr über meine Mitschüler und meine Familie, meine neue Umgebung und das Mädchen, dessen Rolle ich spielen muss. Sean, der Theaterspezialist, würde sagen, dass man durch Proben lernt, seinen Part besser zu spielen, und er hätte damit wohl Recht. Ich beherrsche meinen Text täglich ein wenig besser.
Ich lüge täglich besser.
6. Spinne
I ch bleibe noch ein wenig länger im Auto sitzen als nötig und beobachte ihn durch das offene Fenster. Er sitzt auf der Treppe im Eingangsbereich der Garuda Mall und hat mich noch nicht gesehen. Ich sehe seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht, aber sein Kopf ist in eine andere Richtung gewendet. Er sieht aus wie ein Model aus einer Aftershave-Werbung. Oder nein, er sieht lebendiger aus. Interessanter.
Alisha schiebt sich die Sonnenbrille auf die Stirn und späht mit zusammengekniffenen Augen an mir vorbei zu Ray. »Was ist?«, fragt sie. »Nervös?«
Ich nicke. »Ich habe das Gefühl, noch einmal ganz von vorn anzufangen.« Ich kann mir vorstellen, wie Amarra bei ihren ersten Dates zumute war, wie aufgeregt sie war, wie jedes Mal ihr Herz aussetzte, wenn er sie ansah, und wie sie das Gefühl hatte, ständig unter Strom zu stehen. Ein wenig so geht es mir jetzt. Und letztes Jahr mit Sean ging es mir genauso.
»Das wird schon«, versichert Alisha mir. »So etwas braucht Zeit.« Sie streicht mir die Haare aus der Stirn. »Du musst ihn auch nicht treffen. Du kannst ihn anrufen und sagen, etwas sei dazwischengekommen.«
Die Versuchung ist groß. Er wäre enttäuscht, aber ich müsste nicht die ganze Zeit lügen. Ich fühle mich wie in einem Netz gefangen. Mit jeder Lüge verwickle ich mich fester darin, bis ich eines Tages keine Luft mehr bekomme.
Aber ich werde nicht weglaufen. Ich steige jetzt aus und gehe zu ihm. Ich muss nur noch Mut fassen.
Ich halte mich einfach strikt an meine Ausrede: an die angeblichen Gedächtnislücken und meine Verunsicherung nach dem Unfall. Anders geht das nicht. Niemand hat mich zur Freundin ausgebildet, zur Geliebten – als das mit Ray herauskam, war nicht mehr genug Zeit, es in den Unterricht einzubeziehen und mich besser darauf vorzubereiten.
»Nein, geht schon«, sage ich. »Ich steige jetzt aus.«
Ray hat das Einkaufszentrum vorgeschlagen. Offenbar haben er und Amarra sich dort öfter getroffen. Der klimatisierte Innenraum hat ihnen gefallen. Sie sind die Rolltreppen auf und ab gefahren, haben in einem der Restaurants gegessen, einen Film gesehen und auf dem Weg nach draußen noch ein Eis gekauft oder sind einfach herumspaziert.
»Viel Spaß«, sagt Alisha. »Ich bringe ein paar Sachen zur Galerie für die Ausstellung nächste Woche, aber ich werde nicht lange brauchen. Ich rufe dich auf dem Nachhauseweg an. Wenn du schon zurückfahren willst, hole ich dich ab.«
»Okay, danke.«
Sie fährt los und stößt dabei fast mit einem parkenden Auto zusammen. Nach dem klimatisierten Auto erschlägt mich die Hitze und Schweiß läuft mir den Nacken hinunter. Am liebsten hätte ich die Haare zu einem Knoten oder Pferdeschwanz aufgebunden, aber niemand soll das leuchtend weiße Pflaster sehen, das ich über mein Mal geklebt habe. Vor allem Ray nicht. Dass es im Sportunterricht freiliegt, ist schlimm genug.
Ich gehe auf Ray zu und verknote die Finger. Er steht auf, als er mich sieht, kommt mir aber nicht entgegen, sondern wartet auf mich. Auf seinem Gesicht erscheint ein Lächeln.
»Was ist?«, frage ich, als ich vor ihm stehe und er mich immer noch schweigend anstarrt. »Habe ich etwas im Gesicht?«
»Nein«, sagt er verlegen, »entschuldige. Ich vergesse nur immer, wie schön du bist.«
Mein Gesicht wird heiß.
»Du wirst rot!«, neckt er mich. »Hey! Punkt für mich.« Ich sehe ihn verwirrt an.
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