Lost Girl. Im Schatten der Anderen
alles aus.
An Rays Gesicht lese ich seine ganze Not ab, die vielen Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. Dass er nicht fassen kann, wie sehr ich Amarra ähnlich sehe. Dass er sich erinnert, wie er mich auf die Wange geküsst, meine Hand gehalten und meine Haut berührt hat und es genauso war wie mit Amarra. Wenn er mich jetzt wollte und ich ihn, würde es sich genauso anfühlen wie mit ihr. Seine Augen flackern, er ist versucht und wütend zugleich. Ich schlucke.
»Du bist nicht Amarra«, sagt er. »Du bist nur ihr Echo.«
Ich nicke. »Nur ihr Echo. Und du bist ein Minenfeld. Ich sollte lieber einen Bogen um dich machen, damit du nicht explodierst.«
Er kommt näher und streckt die Hand aus. Ich warte, beobachte ihn und halte die Luft an. Nach einer Ewigkeit lässt er die Hand wieder fallen.
»Du bist nicht Amarra«, wiederholt er.
»Dreh dich um«, sage ich leise. »Ich will mich umziehen.«
13. Vollendung
R ay bietet an, Kaffee zu machen, und wir gehen in die Küche. Sir Jacques tappt hinter uns her. »Warum lädst du mich zum Kaffee ein, wenn du mich auch einfach bitten könntest, zu gehen?«, frage ich. »Ist heute so ein Tag, an dem du mich sehen musst? Oder ein Tag, an dem es höllisch wehtut?«
»Es überrascht dich«, stellt er fest. Wie scharfsinnig von ihm. »Weil ich nicht immer nett zu dir war?«
»Das dürfte der Grund sein.«
»Aber ich bin ein höflicher Mensch.«
»Ach so?«, sage ich freundlich. »Und hatte deine Höflichkeit in den vergangenen acht Monaten Urlaub?«
»Sehr witzig.« Und er fügt hinzu: »Ich habe damals gesagt, niemand wolle dich hier, und das war gemein von mir. Aber ich war wütend. Und wenn ich wütend bin, sage ich so was. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?«
»Kommt drauf an. Bist du einer?«
Er mustert mich misstrauisch. »Fragst du immer so viel?«
»Ja. Ist das ein Problem?« Eine Pause entsteht, in der Ray am Küchentresen steht und heftig in seiner Kaffeetasse rührt. Sir Jacques lässt ein tiefes, zufriedenes Brummen hören.
»Auch Zucker?«, fragt sein Herrchen.
»Ja, bitte. Vier Löffel.«
Ray sieht mich verblüfft an und zählt vier Teelöffel Zucker in eine Tasse ab. Er selbst hat nur einen genommen. Einen mehr als Sean, der seinen Kaffee schwarz trinkt, einen weniger als Mina Ma, die ihren gern ein wenig süßer hat, und Erik? Erik würde selbst dann keinen Kaffee trinken, wenn er keinen Krümel Tee mehr im Haus hätte. Ich lausche auf das Klappern des Löffels. Es ist ein vertrautes Geräusch und versetzt mich unwillkürlich in ein Zimmer, in dem es zart nach Handcreme duftet und durch dessen Terrassentür man in der Ferne eine hügelige Landschaft sieht. Ich bin damit beschäftigt, Zucker in die Tee- und Kaffeetassen meiner Vormunde zu löffeln.
Das Klappern des Löffels verstummt und Rays blasses Gesicht und seine unglücklichen Augen holen mich in die Wirklichkeit zurück. Ich frage mich, ob ein Teil von mir immer in dem Haus am See bleiben wird und ob ich je aufhören werde, mich dorthin zurückzusehnen.
Was ist dein größter Wunsch? , fragt die Frau mit den traurigen Augen in meinem Traum. Ob sie die Antwort weiß? Ich glaube, sie kennt die Antwort und ist so furchtbar traurig, weil sie weiß, dass das, was ich mir wünsche, so unerreichbar ist wie die Sterne am Himmel.
Aber manchmal fällt ein Stern vom Himmel.
Ich verdränge die in mir aufkeimende Hoffnung. »Du bist also nicht mehr so wütend auf mich wie früher?«, frage ich.
»Ich weiß nicht, was ich bin.« Ray stellt die Kaffeetassen auf den Tisch. »Es ist so merkwürdig, dich zu sehen und zu hören, und du bist ihr so ähnlich. Es tut mir weh, aber es ist auch schön.« Er beobachtet, wie ich mich neben seinen Hund knie, der keine Fremden mag. »Wir beide sind nicht so verschieden, wie ich gedacht habe. Von unserer Art her.« Er räuspert sich. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich mögen könnte. Ich habe dir vorgeworfen, du hättest Amarras Leben gestohlen. Daran muss ich auch immer noch denken, andererseits kann ich nicht die ganze Zeit wütend sein. Amarra täglich zu vermissen, ist auch so schlimm genug. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich mag oder nur durcheinander bin, weil ich mich so sehr nach Amarra sehne.«
Ich höre, wie seine Stimme schwankt. Seine Gefühle liegen offen und ungeschützt vor mir. Seine Entscheidungen und Gesten sind oft unbesonnen, aber er hat auch eine ernste Seite, die mir gefällt.
»Vielleicht könnten wir ja Freunde sein?«, frage
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