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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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ich vorsichtig, denn ich will nicht auf eine Mine treten. »Du kannst Amarras Gesicht sehen, wann immer du willst, und ich kann mit dir Kaffee trinken.«
    »Warum solltest du das wollen?«
    Das frage ich mich auch. Wenn ich mit Ray zusammen bin, frage mich, wer ich bin. Wer ich sein soll. Es verwirrt mich, aber dann ist es auch wieder schön.
    »Du bist in Ordnung«, sage ich. »Und Amarra wäre auch mit dir ausgegangen. Du weißt, dass ich nicht Amarra bin, und ich will auch gar nicht Amarra sein, aber es gibt Regeln, an die ich mich halten muss.«
    »Ich dachte, diese Regeln spielen jetzt keine Rolle mehr. Warum willst du sie einhalten, wenn du nur noch ein Jahr hast? Ich meine«, fügt er hastig hinzu, »ich weiß ja nicht … ich wollte nicht sagen, dass damit alles egal ist …« Er sieht mich verlegen an. »Ich halte jetzt am besten den Mund.«
    Ich schüttle den Kopf. »Macht nichts. Es ist ja nicht so, dass sich das Problem in Luft auflöst, wenn niemand davon spricht. Du hast Recht, warum sollte ich mich an die Regeln halten? Aber ein Jahr ist viel Zeit.«
    Ray hält seine Tasse mit beiden Händen und starrt sie eingehend an. »Ich weiß nicht, ob wir je wirklich Freunde sein könnten«, sagt er schließlich. »Das ist doch krank.«
    »Egal«, sage ich. »Wenigstens gehen wir nicht mehr aufeinander los.« Ich hebe die Gardine ein wenig hoch und sehe aus dem Fenster. »Es hat aufgehört zu regnen. Am besten gehe ich jetzt. Die Kleider gebe ich dir nächsten Donnerstag zurück, wenn wir Prüfung haben.«
    Ray und Sir Jacques begleiten mich zur Tür. In Rays Augen spiegeln sich Verletzlichkeit und Unsicherheit. Wie muss er Amarra geliebt haben, denke ich traurig.
    »Ich vermisse sie auch«, sage ich an der Tür. Es stimmt, auch wenn ich es bisher nicht einmal vor mir selbst zugeben konnte. »Sie war mein ganzes Leben lang da. Ich habe ihre Stimme gehört und sie auf Videos gesehen und ich habe gelesen, was sie in ihrem Tagebuch geschrieben hat. Manchmal kann ich nicht glauben, dass das alles vorbei sein soll. Manchmal weiß ich nicht, wer ich ohne sie bin. Es ist sehr einsam ohne sie.«
    »Ja«, sagt Ray. »Und … alles Gute zum Geburtstag.«
    Ich gehe so lange, bis mir die feuchte Luft und der Lärm zu viel werden, dann winke ich einer Rikscha. Der Verkehr tobt immer noch und die Stadt zieht langsam an mir vorbei. Ich beantworte die freundlichen Fragen des Fahrers auf Kannada, das ich besser kann als Hindi. Hindi spreche ich kaum. Mina Ma hat keinen Wert darauf gelegt. »Das wird im Norden gesprochen«, hat sie immer gesagt. »Wir brauchen es nicht.«
    Alisha sitzt zusammengekauert auf dem Sofa, als ich nach Hause komme. Sie wendet den Blick gleich wieder ab, als täte mein Anblick ihr zu sehr weh. Ihre Augen sind rot, ihre Stirn ist gerunzelt.
    »Ich habe dir einen Kuchen gebacken«, sagt sie.
    Ich bleibe stehen. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
    »Es war keine Mühe. Sasha wollte es unbedingt.«
    »Danke.«
    »Eva?«, sagt sie, bevor ich mich zum Gehen wende. Dann bricht es aus ihr heraus. »Es … tut mir so leid.«
    Ich nicke, sage aber nichts. Es gibt nichts zu sagen. Seit der Schlafbefehl aufgetaucht ist, ist die Stimmung im Haus angespannt. Es ist, als hätte jemand alles auf den Kopf gestellt. Nikhil weigert sich, mit seinen Eltern zu sprechen. Neil und Alisha klingen gereizt, wenn sie sich miteinander unterhalten. Die Freundschaft und das noch zarte Vertrauen, welches seit meiner Ankunft entstanden ist, sind erschüttert, das empfindliche Gleichgewicht ist zerstört. Sasha zuliebe tun wir so, als sei nichts passiert. Niemand will ihr sagen, dass ich eines Tages gehen und nicht mehr zurückkommen werde.
    Manchmal wünschte ich mir fast, Nikhil hätte den Brief gleich nach dem Unfall seinen Eltern gegeben. Dann wäre ihnen das wenigstens erspart geblieben. Sie hätten mich nie kennengelernt und kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen. Für mich wären sie Fotos und Geschichten geblieben, keiner von uns hätte irgendwelche Gefühle entwickelt. Ich hätte meine letzten Monate mit Mina Ma, Erik, Ophelia und Sean in England verbracht.
    Ich gehe nach oben. »Für jemand, der tot ist«, murmle ich an eine imaginäre Amarra gerichtet, »bist du erstaunlich lebendig.«
    Aber vielleicht sind die Toten das immer. Sie bleiben, leben fort. Das ist erfreulich, aber auch quälend und schmerzhaft. Sie brauchen uns nicht, sie sind ihr eigenes Echo.
    Als ich an diesem Abend im Bett liege, tanzen

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