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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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wollte etwas Schönes«, sagt er, »aber auch etwas Gefährliches. So wie du. Sie meinte, du seist wie ein filigranes Glasgebilde. Rein und schön, aber zugleich mit scharfen Kanten, an denen man sich schneiden kann. Deshalb wählte sie die Schlange. Amarra wollte nicht vergessen, dass die schönsten Dinge manchmal die gefährlichsten sind.«
    »Wenn sie mich so wenig leiden konnte, warum hat sie mich dann immer brav mit Informationen versorgt? Sie hat Listen geführt, Tagebuch für mich geschrieben und mir Dinge erzählt, die sie mir wahrscheinlich gar nicht erzählen wollte.«
    »Sie hat ihre Eltern sehr geliebt und für ihre Eltern war es wichtig. Also hat sie es getan. So war sie.«
    Ich blicke aus dem Fenster auf zwei Krähen, die auf einen alten Karton einhacken, in dem Hähnchenflügel verpackt waren. »Aber dann wollte sie das auf einmal nicht mehr«, sage ich. »Du bist aufgetaucht. Und sie wollte mich loswerden.«
    »Sie kannte dich nicht«, verteidigt Ray Amarra. »Sie hat dich für eine Art Roboter gehalten, mit Stahl unter der Haut. Für sie hättest du genauso gut in einem Gefrierfach liegen können, bis du gebraucht wirst. Sie mochte dich nicht, aber sie hätte nie versucht, dich loszuwerden, wenn sie gewusst hätte, dass du … so bist. Mit eigenen Gefühlen und Gedanken. Das hätte sie nie getan.«
    »Na gut«, sage ich und reibe mir das Handgelenk, weil mein Tattoo juckt.
    »Sind sie echt?«
    Ich sehe ihn verwirrt an. »Was?«
    »Deine Gedanken und Gefühle? Oder reagierst du nur auf bestimmte Reize, wie man es dir beigebracht hat?«
    »Natürlich sind sie echt«, erwidere ich empört. Was erlaubt er sich! »Sind deine Gefühle denn echt?«
    Er streckt die Hand über den Tisch zu mir aus und streicht mit den Fingern ganz leicht über meinen Hals. Ich spüre die Finger zart und schwerelos wie Schmetterlingsflügel auf meiner Haut, zucke zusammen und bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut. Plötzlich denke ich an einen Zoo, an ein Haus und einen Daumen, der über die weiche Haut meines Handgelenks fährt. An einen Traum, in dem jemand mit den Lippen meine Ellbeuge berührt.
    »Das spürst du«, sagt Ray. »Genauso wie Amarra, wie jeder normale Mensch. Als wir im vergangenen Jahr an den Wochenenden ausgegangen sind, habe ich dich manchmal berührt und du hast genau wie Amarra darauf reagiert.«
    »Mach das nicht noch mal«, sage ich.
    In Rays Augen flackert plötzlich eine verwegene Hoffnung auf. Seine Augen glänzen wie im Fieber. »Vor zwei Tagen habe ich mit einer Frau gesprochen«, sagt er. »Sie meinte, Amarra sei vielleicht doch nicht endgültig tot.«
    »Was?«
    »Amarra lebt vielleicht noch. In dir. So, wie es vorgesehen war. Könnte das nicht erklären, warum Amarras Mutter bei eurer ersten Begegnung so sicher war, Amarra zu sehen? Und vielleicht bist du es, die Amarra daran hindert, aufzuwachen oder wie immer du es nennen willst. Denn du hast deinen eigenen Kopf und deine eigene Persönlichkeit und unterdrückst sie damit sozusagen.«
    Ich sehe ihn ungläubig an. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sage ich. »Gehörte diese Frau vielleicht zu den Meistern?«
    »Nein, aber …«
    »Dann hat sie keine Ahnung, wovon sie redet«, schimpfe ich. »Niemand weiß, ob wir dazu fähig sind. Nur die Meister. Nur sie verstehen uns.«
    »Aber diese Frau schien zu wissen, wovon sie sprach«, erwidert Ray verstimmt. »Warum tust du es von vornherein ab?«
    »Weil es eine Ungeheuerlichkeit ist. Amarra ist tot, Ray. Du kannst sie nicht wieder zum Leben erwecken. Ich weiß, dass du sie zurückwillst, aber ich bin nicht Amarra.«
    Ich stehe auf, um zu gehen. Die Hände habe ich zu Fäusten geballt. Ray folgt mir auf die Straße hinaus. Flehend sieht er mich an.
    »Aber wenn die Möglichkeit bestünde …«
    »Also gut, nehmen wir es an«, sage ich wütend. »Tun wir so, als gäbe es eine Möglichkeit. Was dann? Du kennst mich. Du weißt, dass ich eigene Gedanken und Gefühle habe. Soll ich verschwinden, sterben, damit Amarra aufwachen kann?«
    »So meine ich das nicht«, sagt er. »Bitte glaub mir, ich will dir nicht wehtun. Aber du hast sowieso nicht mehr viel Zeit …«
    Ich könnte ihm eine runterhauen. »Wie reizend, mir das so ins Gesicht zu sagen.«
    Er wird rot. »Es ist mir herausgerutscht.«
    »Das macht es auch nicht besser. Glaubst du wirklich, ich könnte dem Tod entkommen, indem ich mich in Amarra verwandle?«
    »Warum nicht? Die Frau, mit der ich gesprochen habe, meinte, du würdest nicht

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