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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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nicht damit gerechnet, dass ich auftauche.«
    »So war es auch gedacht«, sagt er. Es klingt nicht unfreundlich. »Amarra meinte, sie hätte dafür gesorgt, dass die Meister dich beseitigen, wenn ihr etwas zustoße, damit du sie nicht ersetzen kannst.«
    »Das hat sie wegen dir getan. Sie wollte dich nicht mit mir teilen. Ich habe mich schon gewundert. Sie hat sich immer mit mir abgefunden, warum wurde es ihr dann eines Tages zu viel? Ich kam nicht drauf, was den Ausschlag gegeben hat. Dabei lag es auf der Hand. Du warst es.«
    Ray schweigt einen Augenblick. Dann fragt er vorsichtig: »Heißt das, dass du … du weißt schon … dass sie dich …«
    »Ja«, sage ich vollkommen ausdruckslos. »Sobald ich achtzehn bin.«
    Ray sagt nichts, aber sein Gesicht zeigt so etwas wie Bedauern.
    Wieder entsteht ein unbehagliches Schweigen.
    »Wir sind erst auf der MG Road«, sage ich und spähe durch den Regen. »Meinst du, der Verkehr ist auf der ganzen Strecke so schlimm?«
    Ray nickt. »Bald stehen wir richtig im Stau. Bis zu Amarras Haus brauchen wir womöglich über eine Stunde. Willst du anhalten und etwas anderes anziehen?«
    »Wo denn?«
    »Ich wohne fünf Minuten von hier entfernt. Du bist etwas kleiner als meine Mutter, aber ihre Kleider müssten dir passen.«
    »Macht es deiner Mutter nichts aus?«
    »Nein. Sie ist diese Woche bei meinen Großeltern in Paris.«
    »Warst du auch schon mal dort?«
    »Wo? In Paris?«
    Ich nicke.
    »Bis vor zwei Jahren sind wir jeden Sommer hingefahren. Ich fand es toll. Aber jetzt mit den Prüfungen und allem sind die Sommerferien viel kürzer, deshalb bin ich nicht mehr so oft dort.«
    Mein Handy summt und das Herz schlägt mir bis zum Hals, aber es ist nur eine SMS von Lekha. Ich komme mir dumm vor. Wie konnte ich nur hoffen, es könnte Sean sein. Ich sollte nicht an ihn denken, aber ich kann nicht anders. Fortwährend stelle ich mir vor, wie er ein ganz normales Leben führt. Denkt er oft an mich? Sagt er sich auch, dass er nicht an mich denken sollte?
    Ray fährt durch ein offenes Tor und bremst vor einem hohen, weißen Haus. Alles ist ruhig, nur ein Hund bellt.
    »Es ist niemand zu Hause«, sagt er, »es sei denn, du zählst Sir Jacques mit.«
    »Sir Jacques?«
    »Meine Mutter hat ihn so getauft. Er ist zum Teil Promenadenmischung und zum Teil Husky, deshalb habe ich wirklich keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht hat. Wenn du einen Hund findest, der weniger wie ein Sir Jacques aussieht …«
    Ich folge Ray zur Haustür. Er schließt auf und lässt mich eintreten. Verstohlen wirft er einen Blick auf mich und meine nassen Kleider und sieht rasch wieder weg. Die Kleider kleben mir am Körper. Ich bin auf einmal verlegen.
    Ein Hund läuft auf uns zu. Er ist groß und kräftig, hat ein struppiges Fell wie ein Wolf und springt um Ray herum. Seine Zähne sind gefletscht, als ob er grinste. Er ist dunkelgrau mit weißen Flecken auf dem Bauch. Sein Bellen macht mir Angst, aber ich bleibe stehen, wo ich bin.
    Nachdem er Ray begrüßt und mich misstrauisch beäugt hat, leckt er mir die Hand und wedelt mit dem Schwanz. Ich kraule ihn hinter den Ohren.
    »Komisch«, sagt Ray, »er mag sonst keine Fremden.«
    »Tiere mögen mich lieber als Menschen«, sage ich wahrheitsgemäß. »Sie spüren nicht gleich, dass etwas nicht stimmt, wenn sie mich sehen.«
    Ray murmelt etwas auf Französisch, aber so leise, dass ich es nicht verstehe, und geht aus dem Zimmer. »Ich bringe dir was zum Anziehen.«
    Kurz darauf kehrt er mit einer Seidenbluse und engen Bluejeans zurück. »Die hat meine Mutter seit Jahren nicht mehr getragen, aber sie müssten dir passen.«
    Ich bedanke mich.
    »Ich sehe auch nicht hin«, sagt Ray. Er will sich wegdrehen, hält aber plötzlich inne. Das nasse T-Shirt, das ich schon zur Hälfte hochgezogen habe, lasse ich wieder fallen. Rays Gesichtsausdruck hat sich verändert. »Du hast gar keine Narben von dem Hundebiss«, sagt er.
    »Narben gehören zu den wenigen Dingen, dich ich nicht übernehmen musste.«
    »Aber Amarras Tattoo hast du?«
    Ich schiebe meine Armbanduhr das Handgelenk hinauf und zeige es ihm. Die kleine Schlange blickt zu uns auf und Ray schüttelt den Kopf. »Es ist verblüffend, wie sehr du ihr ähnelst. Du könntest sie sein.«
    »Darum ging es ja«, sage ich.
    Er rührt sich nicht, ballt aber die Hände zu Fäusten. Wir sind uns in vieler Hinsicht ähnlich. Wir können unsere Gefühle nicht verbergen. Unsere Gesichter zeigen alles, unsere Stimmen drücken

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