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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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man so etwas spüren?
    Ich fröstele und frage mich, warum ich ausgerechnet daran denken muss.
    »Warum hat Amarra sich nicht angeschnallt?«
    »Hier schnallen sich viele nicht an. Man nimmt es mit den Vorschriften nicht so genau.«
    »Aber Amarra ist der Typ, der sich anschnallt. Sie hat doch auch ihre Äpfel gewaschen. Warum war sie an diesem Abend nicht angeschnallt?«
    »Sie war klein«, murmelt Ray. »Wie du. Wenn sie angeschnallt war, kam sie nicht weit genug rüber, um mich zu küssen.« Er streicht sich mit der Hand über den Hals. »Deshalb hat sie sich abgeschnallt.«
    Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt.
    Sonyas Farm liegt abseits der Straße an einem kurvigen, ungeteerten Weg hinter Bäumen und kaputten Zäunen. Bei unserer Ankunft parken auf dem großen Platz vor dem Haus zehn oder zwölf Autos. Leises Wummern von Musik ist zu hören. Ich spüre ein nervöses Kribbeln im Magen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Ray auf die Uhr blickt. Er wirkt angespannt und ist weiß im Gesicht. Was macht ihn denn so nervös? Vielleicht fürchtet er sich vor dem, was seine Freunde und Klassenkameraden sagen werden, wenn er mit der Kopie seiner toten Freundin auftaucht. Es könnte schlecht ankommen.
    Ich nehme seine Hand, drücke sie kurz. »Ray? Danke, dass du das für mich tust.«
    Aus irgendeinem Grund wirkt er daraufhin noch bedrückter. »Komm«, sagt er.
    Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Offenbar hat Sonya den anderen angekündigt, dass Ray mich mitbringt, denn niemand wirkt besonders überrascht. Sie begrüßen Ray freundlich, nur wenige klingen eine Spur kühler als sonst oder sehen ihn fragend an. Sam meidet mich, aber andere grüßen mich, auch wenn sie meinen Namen nicht aussprechen. Wahrscheinlich wissen sie nicht, wie sie mich anreden sollen. »Amarra« geht ja nicht mehr.
    Niemand starrt uns an, so interessant scheinen wir nicht zu sein. Schnell kehren die anderen zu dem zurück, was sie vor unserer Ankunft getan haben: sie plaudern, holen sich etwas zu trinken oder hopsen albern auf Sonyas provisorischer Tanzfläche herum.
    Wir setzen uns in der Nähe der Küche an einen Tisch, auf dem Flaschen und Dosen stehen. Ray schenkt Cola in ein Glas und ich sehe Sonya in der Küche stehen. Sie ist allein und telefoniert. Auf dem Tresen hinter ihr stehen weitere Getränke. Sie winkt Ray aufgeregt zu.
    »Ich glaube, Sonya will mit dir sprechen«, sage ich. »Vielleicht gefällt ihr dein Hemd nicht?«
    Ray lächelt widerstrebend. »Sie hat bestimmt was zu meckern«, sagt er. »Bin gleich wieder da.«
    Er geht zu Sonya. Ich bleibe sitzen, lege meine Handtasche auf den Tisch und trinke meine Cola, damit es aussieht, als wäre ich beschäftigt.
    Ein Mädchen namens Tara, die ältere Schwester einer Mitschülerin, fängt ein Gespräch an. Nach nur zehn Minuten zwingt mich die Verbindung von Cola und Aufregung zu einem Besuch der Toilette. Ich frage Tara, ob sie weiß, wo das Bad ist, und sie zeigt die Treppe hinauf. Ich danke ihr und gehe nach oben. Am Badezimmer klopfe ich zuerst an für den Fall, dass jemand drin ist, dann gehe ich hinein und schließe ab. Die Musik dringt nur gedämpft durch die Tür und angenehm frische Luft weht durch das Fenster herein.
    Auf dem Weg nach unten stoße ich fast mit Ray zusammen. Er sieht aus, als hätte er seit unserer letzten Begegnung drei oder vier Wodkas getrunken.
    »Ray, bist du …«
    Ray legt einen Finger an meine Lippen und ich verstumme. Er bewegt sich nicht, als wäre er betrunken. Seine Hand wirkt ruhig.
    »Du bist so schön«, sagt er. »Amarra war schön. Ist schön. War schön. Du bist es auch. Ihr beide seid es.« Er beugt sich vor und ich erstarre vor Schreck. »Ich habe dich Monster genannt, aber das bist du nicht. Ich bin eins.«
    Sein Gesicht kommt noch näher und er küsst mich. Ich spüre es ganz leicht auf den Lippen. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich erwidere den Kuss instinktiv, ohne etwas zu denken oder zu fühlen. Ich bekomme keine Luft mehr und schmecke den Wodka in Rays Atem. Er schmeckt bitter.
    Ray richtet sich wieder auf und reibt sich die Augen, als könnte er nicht verstehen, was über ihn gekommen ist. Er lehnt den Kopf an die Wand. »Du musst weg, Eva.«
    »Wie bitte?«
    »Du musst weg«, wiederholt er. Hinter seinem leicht alkoholisierten Begehren, dem Kummer und den Erinnerungen an Amarra steckt noch etwas anderes. Schuldgefühle.
    Angst.
    »Wovon redest du?«, frage ich misstrauisch. Ich habe immer noch Herzklopfen.

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