Lost Place Vienna (German Edition)
eines Sightseeing-Busses mischte. Sie ahnte, wer der
Mann war, deswegen folgte sie ihm nicht. Sie wusste, dass sie sich schon bald
wieder begegnen würden.
ZEHN
Die Bim näherte sich dem Elterleinplatz. Hier musste sie
aussteigen und den Rest zur Kalvarienberggasse zu Fuß zu gehen. Es war ihr, als
würde sie jetzt gleich nach Hause kommen. Und sie fürchtete sich davor. Sie
hoffte, dass es den circolo von Zia Giulia nicht mehr
gab, dass es auch die Haltestelle nicht mehr gab, dass die Straßenbahn einfach
weiterfuhr, ewig im Kreis. Ohne Ziel, ohne Wunsch. Und irgendwann würden auch
die vorbeiziehenden Häuser und Straßenzüge verschwinden. Erst im Nebel, dann im
Nichts. Auflösung. Erlösung. Aber das Nichts würde es nicht geben, solange es
noch das Rätsel gab, das sie zu lösen hatte. Rätsel lösten sich nicht in nichts
auf, sie wollten geknackt werden, unerbittlich.
Sie stieg aus der Bim und merkte, wie sie mit jedem Schritt, den sie
die Kalvarienberggasse nach oben stieg, langsamer wurde. Sie hatte Angst.
Schon von Weitem konnte sie den Markt sehen. Leckereien aus Italien:
Oliven, Ziegenkäse, Lorbeer, Gebäck, eingelegte Tomaten, Büffelmozzarella aus
Apulien. Die Stände bildeten eine Gasse und führten auf ein Tor zu, hinter dem
sich ein großer Hof öffnete. Hier wurde der Markt gemischt, Kunstgewerbler
wechselten mit privaten Händlern, die ihre Haushalte entrümpelten. Der
Gebäudekomplex, der den Hof umschloss, war eine alte Druckerei, die man schon
vor Jahren in Wohnungen und Geschäftsräume umgewandelt hatte. Wenn man durch
den Torbogen ging, musste man sich rechts halten, um zu Zia Giulias circolo zu gelangen. Valentina tat es, vorbei an Ständen
mit altem Geschirr, selbst gezogenen Kerzen, Topflappen und abgetragenen
Kleidern. Der circolo war nicht mehr. Er war einer
kleinen Buchhandlung gewichen. Sie hatte keinen Namen. Nur über der
Fensterfront stand etwas geschrieben, in schlichten rostbraunen Lettern:
»Romane«.
Valentina konnte die Adrenalinausschüttung förmlich spüren. Der
Schriftzug war identisch mit jenem des letzten Kopffundorts.
Langsam ging sie auf den Buchladen zu. Davor waren ebenfalls zwei
Stände aufgestellt. In Kartons wucherten gebrauchte Bücher. Einige besondere
Exemplare hatte man exponiert, um Käufer anzulocken. Vor allem zwei Bücher
schienen besonders wertvoll zu sein. Sie wurden von Buchlehnen gestützt und
prahlten mit bunten Covern. Das eine hieß »Die drei Musketiere«, das andere
»Meuterei auf der Bounty«.
Wie hypnotisiert ging Valentina auf die beiden Bücher zu, bis sie an
den Stand stieß. Die Bücher wackelten, aber fielen nicht um.
Drei Musketiere, drei tote Frauen, Dreifaltigkeit, drei
Evangelisten, die vom Kalvarienberge erzählten. Meuterei, Ungehorsam, der mit
dem Tod gesühnt wird. Und Valentina wusste, dass bald ein weiterer ungehorsamer
Frauenschädel irgendwo ausgestellt werden würde, wenn sie nicht alldem ein Ende
setzte. Entweder sie würde sich ergeben, oder sie würde dem kruden Hirn, das
hinter dieser Perversion stand, das Handwerk legen. Momentan war ihr danach, aufzugeben.
Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Stecker gezogen. Köpft mich! Schlagt mir
endlich den Schädel vom Hals, damit ich Ruhe habe!, schrie sie lautlos in sich
hinein.
»Ich empfehle Ihnen den Dumas«, hörte sie eine Stimme, die sie
bereits kannte. Sie drehte sich nach dem Schnarren um. Es war Deutsch. Er
lächelte sie aus seinem faltigen Gesicht an. »Es gibt zwar nur drei Musketiere,
aber d’Artagnan, der vierte, das ist der wahre Protagonist. Es geht niemals um
die Drei: Die Drei ist immer nur der Köder. Die Vier ist die Quadratur, ist von
Dauer und Bestand. Was die drei Evangelisten erzählen, ist schön und gut, aber
es ist Johannes, der vierte, der die wahren Rätsel aufwirft.«
»Il Cervello?«, fragte Valentina direkt.
Der Alte kicherte. »Nein, nein, ich bleib bei meinen Leisten. Ich
bin Souffleur, das sagte ich Ihnen doch bereits. Wie Saint-Just. Es ist gut,
dass Sie mir geglaubt haben. Sie haben erst gezweifelt, gedacht, der Alte
spinnt. Und auch ich muss gestehen, ich habe nicht geglaubt, dass Sie so rasch
hierherfinden werden. Aber Il Cervello ist einfach unschlagbar. Sie sind
eine Figur, ich bin der Souffleur, aber er ist der Dichter. Nur der Dichter
weiß die Wege seiner Figuren so exakt vorzuzeichnen. Sie mögen eigene Wege
einschlagen, kurz ausbüxen, sich die Freiheit eines individuellen Momentes
erkämpfen oder erschleichen, aber das
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