Lost Place Vienna (German Edition)
Weg zu
weisen, und lockten sie mit einladendem Finger zu sich, um mit ihnen den Reigen
zu tanzen.
Wer steckte dahinter? Wer kannte sie so gut? Der Mann mit dem dünnen
Schnurrbart, der sie verfolgte und sie eben noch vor dem Kontrolleur in der
Straßenbahn gerettet hatte? War er Il Cervello?
Valentina setzte vorsichtig den ersten Schritt, dann folgte der
zweite. Der Unbekannte breitete die Arme aus und verwandelte sich in ihre
Mutter. Sie selbst war wieder neun Jahre alt und trug ein hellblaues Kleidchen,
das ihr die Mutter genäht hatte; an den nackten Füßen weiße Sandalen. Es war
Sommer, es war heiß, und die Mutter hatte Tränen in den Augen, weil sie
darunter litt, in Wien leben zu müssen, wo doch in Sizilien das weite Meer auf
sie wartete.
Valentina blieb stehen. Sie hatte plötzlich Angst: vor der Lüge, vor
der Erkenntnis, vor allem. Sie steckte fest, konnte weder Arm noch Bein
bewegen. Selbst die Gedanken in Worte zu formen fiel ihr schwer.
»Wer bist du?«
Die Maske antwortete nicht. Zumindest nicht verbal. Dazu war sie
nicht fähig. Sie war keine Halbmaske, bei der der Mund zum Sprechen frei lag.
Sie sprach nur im Spiel mit den Projektionen, auf die sich der Zuschauer
einließ. Ein Orakel, ein Spiegel des Unbewussten.
Die Maske formte sich vor Valentinas Augen immer mehr zum Gesicht.
Es war das Gesicht Don Bernardos, so wie sie es in ihrem Herzen trug. Ein
mildes, warmes Gesicht voller Güte und Weisheit.
* * *
Parizek verabscheute den Gestank vergammelter Bücher. Er hatte
als Schüler für ein Antiquariat gearbeitet, das sich die alten Schinken billig
aus Haushaltsauflösungen geholt hatte. Schwer waren sie gewesen und selten gut
verpackt. Und dann immer wieder die gleichen Bücher, der Bildungskanon des
Bürgertums: Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, damals wohl Rebellen, heute Eigentum
verknöcherter Studienräte.
Auch in dieser Buchhandlung wimmelte es von den üblichen
Verdächtigen.
Er sah sich um, aber außer den Neuerern der deutschen Sprache befand
sich niemand im Raum. Parizek fühlte sich wie tags zuvor auf der abgespielten
Bühne des Burgtheaters. Der Laden glich einer Kulisse, die nur einem bestimmen
Zweck gedient hatte und nun hinfällig geworden war.
Er hatte zu viel getrunken, die Blase drückte. Er ließ seinen Blick
erneut schweifen und entdeckte die Tür, die in einen Nebenraum führte. Parizek
ging darauf zu und vergaß den Harndrang, als er einen Mann mit einem milchigen
Plastiksack über dem Kopf am Boden liegen sah. Er riss ihm den Sack vom Kopf
und erkannte Alberto.
Parizek tastete nach dem Puls an Albertos Hals. Die Ader schlug
noch, aber schwach. Vielleicht würde er durchkommen, vielleicht auch nicht.
Parizek war es einerlei.
Aus dem Nebenraum ging es in einen weiteren Raum, von dort aus auf
ein Klo. Parizek erleichterte sich kurz, verließ das Klo wieder und sah sich in
dem Zwischenraum um. Als sein Blick auf den Boden fiel, entdeckte er eine Luke,
die nicht richtig geschlossen war. Er bückte sich und öffnete den Verschlag.
Eine Leiter führte nach unten ins Dunkel. Parizek zögerte. Er war kein Freund
der Dunkelheit. Aber er tat es für die Sonne in Brasilien. Er stieg hinab.
* * *
Sie saß auf dem Hocker, auf der die Maske zuvor gesessen war,
ihre Strat im Arm, und wusste nicht, was sie darauf spielen sollte.
Der Verhüllte hatte kein Wort gesagt. Bei einem guten Spieler und
einem geschulten Zuschauer funktionierte die Kommunikation stumm. Valentina
hatte gespürt, was sie zu tun hatte. Jetzt streckte er ihr ein Ebenbild von
sich entgegen, eine weitere Neutralmaske. Valentina nahm sie und zog sie sich
übers Gesicht.
Sofort entspannte sich ihre Mimik darunter, ihr Körper wurde
durchlässiger, ihre Finger begannen über die Saiten zu fahren. Es war das erste
Mal seit Jahren, dass sie »Stairway to Heaven« von Led Zeppelin anspielte. Der
Hit war unter Guitar-Heroes verpönt, nur Anfänger dudelten ihn rauf und runter.
In einem Gitarren-Shop in Chicago sollte sogar ein Schild mit der Aufschrift
»No stairways to heaven!« über der Eingangstür hängen.
Valentina zitierte es auch mehr, als dass sie es spielte; lediglich
zwei Takte, sodass man es erkennen konnte. Dann ging sie zu Joe Satrianis
»Always with Me, always with You« über. Ihre Finger staksten ungelenk über
Saiten und Bünde. Sie musste erst warm werden. Deswegen wechselte sie zu
»Frankenstein« der Edgar Winter Group, ehe sie bei »Far beyond the Sun« von
Yngwie Malmsteen
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