Lost Place Vienna (German Edition)
Terrassengarten, den hier fast jeder hatte, reiften noch einige späte
Tomaten. Auch zwei Auberginen hofften auf die letzten warmen Tage. Wenn der
erste Frost käme, wären sie erledigt.
»Hast du Hunger?«, fragte Burak, als er die Tür aufschloss.
»Ziemlich.«
»Ich hab noch eine türkische Pizza von gestern. Steht im
Kühlschrank. Die Mikro ist gleich daneben. Zwei Minuten auf neunhundert. Das
reicht.«
Er verschwand im Bad. Valentina ging an den Kühlschrank und nahm die
türkische Pizza heraus. Noch ehe die zwei Minuten um waren, stand Burak bereits
geduscht in einem Morgenmantel vor ihr.
»Willst du auch ein Stück Pizza?«
»Später.« Er nahm sich Wasser aus dem Kühlschrank und trank es aus
der Flasche. Die Mikro piepste. Valentina stellte die aufgewärmte Pizza auf den
kleinen Tisch. Sie dampfte. »Eine Minute hätte es auch getan«, sagte sie.
»Sie muss heiß sein, sonst schmeckt sie nicht.« Burak grinste
zweideutig. Valentina verdrehte die Augen.
»Meine Mutter sagte immer: ›Geduld, Burak, Geduld ist das Wichtigste
im Leben.‹ Man muss warten können.«
»Ich kann nicht warten. Mir rennt die Zeit davon.«
»Ich weiß.«
Valentina pustete und biss ein Stück ab. Es war ihr egal, ob sie
sich den Gaumen verbrannte.
»Du bist mir etwas schuldig«, sagte sie kauend.
»Was? Ich habe dich nicht verstanden. Mit vollem Mund sollte man
nicht sprechen.«
»Hat das auch deine Mutter gesagt?«
»Nein, mein Onkel zu einer Hure, als sie ihm einen geblasen hat.«
»Ich blas dir den Marsch, wenn du keinen anderen Ton anschlägst«,
sagte Valentina, nachdem sie geschluckt hatte.
»Schon gut. Ist mir rausgerutscht.«
»Kannst es wiedergutmachen.«
»Was brauchst du?«
»Informationen.«
»Über wen?«
»Drei tote Frauen.«
»Kommt ihr da nicht selber dran?«
»Anscheinend nicht. Jedenfalls lahmen meine Kollegen. Aus was für
Gründen auch immer.«
»Mögen sie dich nicht?«
»Nicht alle.«
»Also sie verschleppen.«
»Möglich. Kann auch sein, dass sie tatsächlich keine Daten finden.
Aber ich brauche welche. Ich muss wissen, wer die Frauen sind.«
»Hast du Fotos?«
Valentina zog einen USB -Stick aus der
Jacke und reichte ihn Burak. »Fotos, Beschreibungen, DNA -Informationen.
Und Vermutungen.«
Burak nahm den Stick entgegen und berührte dabei zart Valentinas
Handrücken. Sie zog ihre Hand zurück.
»Dann wollen wir mal sehen, was wir finden.« Burak nahm sich nun
auch ein Stück Pizza. »Jetzt kann man sie gefahrlos essen.« Er grinste und
verließ die Küche in Richtung Arbeitsraum, in dem sich seine Rechner befanden.
* * *
Sie waren diesmal nur zu dritt: Nicola, Toby und Tom. Es war der
erste Nacht-Cache, den Adler ihnen gegeben hatte, und Nicola konnte sich einer
Gänsehaut nicht erwehren. Obendrein handelte es sich um einen sogenannten »Lost
Place«, einen verlassenen Ort, der bestimmt schon bei Tag spukhaft war. Im
Schein der Straßenlaternen, Leuchtreklamen und Scheinwerfer vorbeifahrender
Autos starrten die eingeschlagenen Fensterscheiben des verlassenen Gemeindebaus
sie aus tiefen Augenhöhlen an. Dunkle Häusergestalten, die sich drängten,
tuschelten und darüber verhandelten, wer wen fressen durfte. Zum Glück war sie
nicht allein. Toby und Tom waren kräftige Jungs. Sie würde sich in deren Mitte
halten.
Toby leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Front des Gebäudes: » WO NHAUS ANLA E ER GEMEINDE WIEN ERBAUT 1 5 – 29«.
Er schwenkte die Taschenlampe weiter, und der Lichtkegel landete auf
einem dunkelblauen Schild: »450 Breitenfurter Straße«.
Hier musste es sein. Die Koordinaten stimmten einigermaßen überein,
und es war klar gewesen, dass Adler irgendwann auch abgründigere Jagden
austüfteln würde, um sie über das Reich des städtischen Unbewussten auf ihre
eigenen Ängste zu stoßen.
Es war ein großartiges Projekt, und Nicola hatte sich sehr dafür
eingesetzt, dass Adler als Gastprofessor zu ihnen kam. Sie hatte in Bologna ein
Semester Psychologie studiert und dort den experimentierfreudigen Adler
kennengelernt. Sie selbst hatte damals nicht an dem Pilotseminar teilgenommen,
aber das Schwärmen der anderen hatte sie davon überzeugt, dass das Projekt
unbedingt auch nach Wien übernommen werden musste. Drei Monate hatte sie ihren
Vater beinahe täglich bearbeitet, seine Beziehungen zum Dekanat spielen zu
lassen. Wozu traf man sich sonst über Jahrzehnte in der schlagenden Verbindung?
In Wien funktionierte das Spiel eben so. Für Nicola war das
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