Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Ethikkommission rechtfertigen mussten. Die kämpfen mussten für den Tod ihres Babys. Kein Arzt ist verpflichtet, eine Abtreibung durchzuführen. Bei einer Spätabtreibung suchen sich die meisten Ärzte Rückendeckung von Kollegen, von Hebammen oder Pränataldiagnostikern. Wie entscheidet man, welches Kind jetzt oder in Zukunft das Leben oder die seelische Gesundheit der Mutter schwerwiegend beeinträchtigen könnte?
Es gibt Kliniken, die den Ruf haben, schnell zuzustimmen. In bayerischen Krankenhäusern, so stand es zumindest im Spiegel , werden dagegen »nach einem ungeschriebenen Gesetz« keine Spätabtreibungen durchgeführt. Man kann eine Abtreibung nicht einklagen. Es gibt Kinder, die geboren werden, nicht weil die Eltern das so wollten, sondern weil die Ärzte es so wollten.
All das weiß ich nicht, in der 33. Woche. Abtreiben – so spät? Im neunten Monat? Ich könnte mich darüber informieren, ich könnte das Google-Verbot brechen, das meine Frauenärztin ausgesprochen hat, gleich zu Beginn der Schwangerschaft: »Ab jetzt ist recherchieren verboten. Sie machen sich sonst nur verrückt.« Ich könnte noch mal mit dem Arzt sprechen, der gesagt hat: »Wenn Sie jetzt sagen, dass Sie sonst vom Dach springen ...«
Wir sitzen zu dritt in meinem Krankenzimmer. Ben lässt ein Auto auf dem Bett fahren. Harry und ich schweigen. Wir diskutieren nicht. Wir reden nicht einmal lange darüber. Sogar um das Wort drücken wir uns. Es kommt mir wie Verrat vor, es auszusprechen. Ich will nicht, dass Ben es hört und fragt: »Mama, was ist abtreiben?«
»Aber ...«, sage ich nur, während Ben »brummm, brummm« sagt. »Das können wir nicht, oder?«
»Nein«, sagt Harry und schaut mir auf den Bauch.
Lotta ist schon Lotta, sie ist schon eine kleine Schwester, eine Tochter. Sie tritt, sie strampelt, sie kämpft. Sie gehört zu uns. Wir können sie nicht töten. Oder?
3
»Es kann sein, dass alles schnell vorbei ist«
Unsere Retter und ein Plan
Paris, London – oder Duisburg. Dort sollen die Experten für Vena Galeni Malformation sitzen. Wir machen eine Pointe daraus, die wir später immer wieder erzählen. Duisburg-Wedau neben dem Stadion. Jetzt bitte lachen. Nur wenige tun es.
Wir treten auf die erste Stufe einer Rolltreppe, sie bleibt unbeweglich und starr. Harry hebt den Fuß noch einmal – nichts. »Kein gutes Omen«, sagt er. Ich zische: »Sei still.« Das hier wird unsere Rettung. Hier auf dieser defekten Rolltreppe beginnt unser Happy End. Zweifel sind verboten. Die Ärzte in Köln haben mich gehen lassen und auf direktem Weg nach Duisburg geschickt. Nicht mit dem Krankenwagen, mit unserem eigenen Auto. »Dann kann es nicht so schlimm sein, oder?«, habe ich gesagt, als wir die A3 Richtung Norden fuhren.
Oben begrüßt uns ein Betonklotz von Klinik. An drei Seiten umschließt er einen Hof, in der Mitte wie gestrandet ein Boot. Für Kinder, zum Spielen. An den Balkonen hängen große braune Tierfiguren aus Plastik. Eine Fledermaus, eine Eule, ein Eichhörnchen. Sie leuchten. »Unheimlich«, sagt Harry. Ich kann nicht anders als nicken. Das gestrandete Boot, die leuchtenden Tiere, die kaputte Rolltreppe – sind das gute Zeichen?
Wir kommen aus einer Welt, in der man vor der Entbindung die »Kreißsaal-Tour« bucht und sich die Geburtenstationen der Kliniken anschaut. Gelb geschlämmte Wände, Kerzen, Geburtsbadewannen. Aus einer Welt, in der Hebammen sagen: »Sie dürfen Ihre eigene Musik mitbringen.« In der Kinderärzte Wartezimmer haben, die aus Wohnzeitschriften stammen könnten, und Frauenärzte Ultraschall-DVDs vom Ungeborenen anbieten, in 3-D – »Ein unvergesslicher Blick auf Ihr Kind« für 200 Euro. Wir sind aus dieser Welt herausgefallen. Dort konnte uns keiner helfen. Kann man es hier?
In meiner Tasche habe ich einen Zettel, den ich längst auswendig kenne. »Dr. Axel Feldkamp« steht da. »14.30 Uhr, Kinderklinik«. Wir suchen den Haupteingang, wir finden ihn nicht. Später werden wir wissen, dass wir an der Aufnahme einfach vorbeigelaufen sind. An der Wand hängt ein Plakat mit Fotos, darunter die Namen der Ärzte. Ich beuge mich vor, da stupst Harry mich an. Ein Arzt kommt auf uns zu, graue Locken, weiße Schlappen, schlaksiger Gang. Lächelnd streckt er die Hand aus. »Dr. Feldkamp?« frage ich. »Ihr Foto …«
»Sie erkenne ich an etwas anderem«, unterbricht er mich. Er deutet auf meinen runden Bauch und grinst.
Mehr braucht es nicht. Wir werden uns später erkundigen nach dem Ruf der
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