Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
ich Lotta in den Bauch, nun heul doch nicht.
Harry und ich planen unser gutes Ende. Er beantragt drei Monate Elternzeit, gleich nach Lottas Geburt. »Ich mache Ben«, sagt er. »Du Lotta.«
»Und wenn wir Weihnachten noch im Krankenhaus sind ...?«
»Dann stellen wir eben da eine Tanne auf.«
Die Angst kommt, wenn Ben ins Bett geht. Abends wird es sehr still bei uns. Harry sitzt am Esstisch und recherchiert im Internet. Ab und zu liest er etwas vor. Es sind immer Erfolgsgeschichten. Er will mich schonen, denke ich. Ich sitze auf dem Sofa, in die graue Wolldecke gewickelt, ein Kissen auf dem Bauch. Ich wünsche mir, die Vorhänge wären schon da. Ich stehe auf und lösche das Licht. Harry sitzt am Tisch, in einer Insel aus Licht. Er schaut zu mir, auf dem dunklen Sofa. Ich bin dankbar, dass er nichts sagt. Dass er das Licht nicht wieder anmacht. Ich sitze im Dunklen und versuche, nicht an den schwarzen Fleck in Lottas Kopf zu denken. Wird Lotta überleben? Wenn ja, wie? Gibt es ein Leben, das schlimmer ist als der Tod? Die Fragen sind so groß, dass ich sie nicht über die Lippen kriege. Sie bleiben als dumpfes Gefühl im Magen hängen.
Draußen geht Frau Girschke vorbei. Sie sieht Harry im Licht sitzen und hebt die Hand. Er beugt sich über den Computer und bemerkt sie nicht. Ich sitze im Dunklen und schaue zu ihr hinaus. Was werde ich das nächste Mal sagen, wenn Frau Girschke fragt: »Mit dem Baby alles gut?«
4
»Was hat deins?«
Vom Warten
»Ihre Suite«, sagt die Schwester und deutet auf die Tür von Zimmer 7. Ein Bett, ein Flachbildschirm, Blick auf Betonbalkone und Baumwipfel. Die Station 24, »Geburten«. Noch fünfeinhalb Wochen bis zum errechneten Termin. Brassel, Feldkamp und Pagels waren sich einig: »Es ist Zeit.« Sie wollen Lotta genauer überwachen. Ich habe Ben zum Abschied auf den Kopf geküsst und gesagt: »Du kommst Mama besuchen, ja?« Er hat genickt und mir ein Bild geschenkt. Gelber Wachsstift mit Rot. Ich frage die Schwester nach Tesafilm und hänge es über mein neues Bett.
Meine Nachbarinnen sind die harten Fälle. Wir belegen einen kleinen Flur um die Ecke. Herzfehler, Kiefer-Gaumen-Spalte, Drillinge. Kinder, die »Fragezeichen« sind, wie die Ärzte das nennen. »Willkommen«, sagt Nina, rote Haare, schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug »Leon on tour«. »Was hat deins?« Ihres hat das Down-Syndrom. Im Frühstücksraum sitzen wir immer zusammen. Wir sind fünf Frauen, die einzigen Schwangeren hier ohne Wehen. Die anderen kommen erst, wenn sie ihre Kinder kriegen, danach schleichen sie über den Flur, das kleine Bett auf Rollen vor sich herschiebend. Im Frühstücksraum versucht eine ihr Neugeborenes zu beruhigen, es schreit. »Das ist schon mal ein Vorteil von einem Kind auf der Intensivstation«, sagt Nina. »Wir werden in Ruhe essen.« Wer darüber lachen kann, gehört zu uns.
Zu uns kommen keine Verwandten mit strahlendem Lächeln, wir sehen nur besorgte Gesichter. Die anderen mögen in freudiger Erwartung sein, wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Bis es so weit ist, halten wir uns an Regeln, unausgesprochen und daher umso strenger. Kein Jammern, kein Verstecken, morgens duschen, anziehen, Make-up. Hier könnte ich nicht den ganzen Tag auf den Fernseher starren. Wir besuchen uns gegenseitig in unseren Zimmern, Nina wohnt in der 9. Gemeinsam schminken, wie früher samstags vor der Party, nur dass jetzt der dicke Bauch an den Rand des Waschbeckens stößt. Nina nimmt knallblauen Kajal, um ihre Augen zu umranden, ihren türkisfarbenen Pulli zieht sie so, dass die linke Schulter frei liegt. Ihre Sommersprossen sind selbst jetzt im Winter noch zahlreich.
»Meinst du, Leon kriegt auch rote Haare?«, fragt sie.
»Bestimmt.«
Wenn die Männer kommen, werden sie hergezeigt. Als Ben zu Besuch ist, wird er mit großem Hallo begrüßt und mit Gummibärchen gefüttert.
»Er kann jetzt Laufrad fahren!« Harry zeigt mir ein kurzes Video auf dem Handy, Ben mit riesigem Helm saust um die Ecke, strahlend, im Hintergrund jubelt Harry. Es ist das erste Mal, dass ich ein erstes Mal nicht miterlebt habe. »Freust du dich gar nicht?«, fragt Harry.
»Gestern Abend kam eine Neue, die hat die ganze Nacht geheult«, sagt Nina. »Ich konnte kein Auge zumachen.«
Wir gehen uns vorstellen. Nina bietet Chips an. Die Neue schüttelt den Kopf und wendet den Blick zur Wand.
»Nicht weinen«, sagt Nina. »Warum bist du denn hier?«
»Ich verliere vielleicht mein Kind.«
Eine Minute Schweigen. »Na
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