Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
ja«, sagt Nina. »Das kennen wir hier alle. Essen musst du trotzdem.«
Während wir im Frühstücksraum sitzen, kommen uns die Schwestern holen. Nacheinander, jede muss mal nach unten. Zum Wehenschreiber, zum EKG, zum Vorbereitungsgespräch.
»Ich musste mir Fotos anschauen«, sagt eine, die ein Kind mit Kiefer-Gaumen-Spalte erwartet. »Damit ich nach der Geburt nicht geschockt bin.«
»Mir haben sie die Nummer einer Selbsthilfegruppe gegeben«, sagt eine andere.
»Und – rufst du an?«
»Wieso? Wir haben hier unsere eigene, oder?«
Die Sonne scheint. Ich rüttele an dem Griff der Balkontür. »Warum ist hier immer abgeschlossen?«
»Damit wir uns nicht runterstürzen«, sagt Nina. »Komm, wir gehen auf den Hof.«
Der Hof lässt mich ans Gefängnis denken. Freigang. Immer im Kreis um das Spielschiff herum, wie die Kolonnen der Lebenslänglichen. Auch sonst gibt es viele Parallelen. Wir sitzen in unseren Zimmern und sehen die Zeit vergehen. Warten. Wir schauen den Vögeln hinterher, die am Himmel fliegen. Wir reden nicht über den Grund, warum wir hier sind. Andere bestimmen den Rhythmus, in dem wir leben. Visite, Putzkolonne, Ultraschall.
Wer Besuch bekommt, lässt sich etwas mitbringen. Bei Blumen denken wir alle an Beerdigungen, beliebter sind andere Dinge: Zeitschriften, denn der Kiosk beschränkt sich auf das Goldene Blatt und Rätselhefte, Aufladegeräte fürs Handy, Schokolade. Harry hat sich in das Herz aller geschlichen – mit Tupperdosen voller Nudeln Bolognese, frisch und heiß vom Italiener.
»Ein Traummann«, hat Nina gesagt.
»Ich weiß«, habe ich geantwortet. »Und er sieht auch so aus.«
Sie hat die Augen verdreht. »Na ja. Du weißt, was man über die Liebe sagt, oder?«
Harry: über 1,80, aber der Gang eines Jungen. Ein Dickschädel, die wenigen dunklen Haare millimeterkurz. Langsam werden sie grau. Im Sommer trägt er Baseball Cap, im Winter Mütze. Immer ein Grinsen, ein Scherz und ein Kompliment für die Damenwelt. Als ich mich in Harry verliebte, sagt seine Kollegin: Brich ihm nicht das Herz, sonst ...
Ich habe ihn stattdessen in den Wahnsinn getrieben, indem ich die Spülmaschine immer falsch einräume, und ihn geheiratet.
Nina und ich stehen unten auf dem Hof, in unsere Wintermäntel gehüllt. Vorn schließen sie nicht mehr, mein Bauch hängt raus, ich drapiere einen Schal über Lotta. Neben uns zwei frischgebackene Mütter mit Kinderwagen, daneben eine Schwangere. Alle drei rauchen. Wir schauen rüber. Nina zischt: »Und solche kriegen gesunde Kinder.«
Die Frauen schauen sich um, zugekniffene Augen auf beiden Seiten. »Hast du ein Problem?«, fragt eine.
Ich ziehe Nina am Ärmel. »Komm.«
Wir gehen.
Es ist leicht, sich unseren Zorn zuzuziehen. Ein Kind ohne Mütze, eine laufende kleine Nase und kein Taschentuch, eine Mutter, die telefoniert statt zuzusehen, wie ihre Tochter spielt. Pass auf, sieh hin, dein Kind ist gesund, verdammt, genieß es. Wir verhängen sofort die Höchststrafe: Die verdient kein gesundes Kind. Als wäre Gesundheit etwas, das man sich verdienen muss, als wäre Krankheit eine Strafe für schlechtes Betragen.
Melanie kommt vorbei. Als sie dreimal auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, habe ich sie zurückgerufen und ihr einen Vortrag gehalten, der dem Brassels in nichts nachstand. Vena Galeni Malformation, venöses Blut, Autoregulation. Ich errichte eine Mauer aus Latein und verstecke dahinter die wirklich schlimmen Wörter. Tod. Behinderung. Angst. Wer genügend Fachvokabular beherrscht, muss sie nie hervorholen. »Aber wir sind bei den richtigen Ärzten«, ende ich. »Das wird schon.«
»Oh Gott«, kommt es vom anderen Ende der Leitung und dann ist es lange still.
Schon bevor ich wieder ins Krankenhaus musste, hat sie angekündigt: »Ich komme dich besuchen.«
»Musst du nicht.«
»Auf jeden Fall.«
Nun steht sie in der Zimmertür mit einem Strauß weißer Rosen. Ihr Bauch ist größer geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er steckt unter einem kamelfarbenen Kaschmir-Poncho, ihre Fellschuhe haben denselben Beigeton. Weiße Röhrenjeans im achten Monat. Perlenohrringe. Melanie vom anderen Stern. Sie umarmt mich.
»Wo ist Luca?«
»Den habe ich bei meiner Mutter gelassen. Ist doch hier kein Ort für so einen Kleinen.«
Pause. Ich sage: »Ben kann jetzt Laufrad fahren.«
»Ich weiß, ich habe ihn gesehen. Schnell ist der.«
Wir schweigen. »Kaffee?« Ich melde mich im Schwesternzimmer ab.
Am Automaten in der Cafeteria
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