Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
empfehle ich ihr die »Wiener Melange«. »Besser als der Latte macchiato.«
»Gibt es die denn auch ohne Koffein?«
»Nein«, gebe ich zu. Es ist lange her, dass ich alles richtig gemacht habe.
Sie zögert.
»Die haben auch Roibusch-Tee.«
»Scheiß drauf«, sagt sie und drückt auf die Taste, die braune Suppe in ihren Pappbecher laufen lässt. »Aber sag’s nicht meinem Mann.«
Wir setzen uns in eine Ecke und stoßen an, als wäre es Wodka.
Nach einem langen medizinischen Fachgespräch – Doppler-Ultraschall, Herztöne, Fließgeschwindigkeit des Blutes – kehrt Schweigen ein. Bis sie sagt: »Ich habe das nie gesagt, aber ich wollte auch immer ein Mädchen.«
»Hauptsache, gesund.«
»Entschuldigung.«
Ich schüttele den Kopf, mir rutscht raus: »Manchmal denke ich, was ist denn nun, wenn sie ... wenn sie es nicht schafft. Oder nicht ganz.«
»Das darfst du nicht denken. Wenn man nicht dran denkt, passiert auch nichts.« Sie legt ihre Hand auf meine.
Nina kommt vorbei, sieht Melanie mit mir sitzen und grinst. »Uh lala, Mademoiselle«, wird sie später sagen. »Wer war das denn?«
Zum Abschied fragt Melanie: »Soll ich für dich anrufen? Du hast doch jetzt andere Sorgen.«
» ... ?«
»Bei dem Kurs.«
»Ja«, sage ich. »Meld uns an!«
Am Ende unseres Tunnels werden wir neben Melanie und Noah sitzen und schwitzen. Der Babymassagekurs ist das Bild, auf das ich zusteuere. Wir schaffen das.
Drei Wochen werden es noch bis zur Geburt. Nina und ich verbringen eine chaotische Nacht mit dem »Transporter«, an deren Ende die Worte »falscher Alarm« stehen. Wir erfinden Codenamen für die Schwestern und Ärzte, um ungestört über sie reden zu können, wir schwärmen für den Geburtshelfer, wir schwören den Treueschwur aller Mütter: »Unsere zwei heiraten später mal.« Wir kosten die Vorteile aus: Betten, deren Kopfteil sich per Knopfdruck hochfahren lässt, sodass wir trotz unserer Bäuche schnell in die Senkrechte kommen. Nachtschwestern, die sich immer über Besuch im Schwesternzimmer freuen, wenn eine von uns mal wieder nicht schlafen kann.
»Du darfst nur nicht öffentlich weinen«, sagt Nina. »Wenn dich einer sieht, hetzen sie dir den Seelsorger auf den Hals.«
»Ist der so schlimm?«
Ist sie nicht. Es ist eine sie, die irgendwann auf meiner Bettkante sitzt. Weicher Händedruck, gerunzelte Stirn, Sympathie im Blick. Nett, natürlich, sehr nett. »Das ist für Sie auch nicht einfach, mit einem Kind zu Hause, oder?«
Nein, ist es nicht.
»Wie alt ist er denn?«
»Zwei.« Und ich vermisse ihn sehr. Ich habe Angst. Ich will nach Hause. Ich will mein Baby nehmen und mich irgendwo verstecken, wo uns keiner findet. »Ach, das geht schon. Der darf bei Papa viel mehr als bei mir.«
Sie lacht.
Ich bin stark, sehen Sie? Nun gehen Sie schon. Gehen Sie weg! Hauen Sie ab. Erinnern Sie mich nicht an die Dinge, die ich vergessen möchte.
Wenn Harry »Gute Nacht« sagt am Telefon, antworte ich jedes Mal: »Leg noch nicht auf.«
Jeden zweiten Tag halten die drei Ärzte Feldkamp, Brassel und Pagels Konferenz neben meiner Liege, während einer mit dem Ultraschallkopf über meinen Bauch fährt. »Ich hatte schon kleinere auf dem Tisch«, sagt Brassel. »Meinetwegen könnt ihr sie holen. Je früher ich da rankann, desto besser.«
»Nein«, sagt Feldkamp. »Gebt ihr noch Zeit.«
»Wie fühlen Sie sich?«, wendet sich Pagels an mich und drückt meine Schulter.
Sie diskutieren über Lotta, wie ich früher mit Kollegen in der Redaktionskonferenz über Themen diskutiert habe. Wir sind nicht länger Handelnde. Wir entscheiden nicht. Über uns wird entschieden. Unser Schicksal liegt in den Händen von anderen Menschen.
Wie ist es dahingekommen? Es ging so schnell, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie wir es abgegeben haben. Hätte das nicht der Endpunkt einer langen Debatte sein sollen, in der wir Für und Wider abwägen? Ein bewusstes, langsames Abgeben: Hier habt ihr unser Glück, unser Leben, unsere Tochter, seid vorsichtig damit? Jetzt ist es zu spät.
Brassel und Feldkamp wägen das Risiko einer Frühgeburt gegen das Risiko ab, Lottas Herz noch weiter unbehandelt zu lassen und ihre Fehlbildung unberührt. Ab und zu stelle ich eine Frage. Lasst sie mir noch etwas, denke ich. Lasst mir mein Baby. Sie ist doch noch klein. Manchmal sitzt Harry hinten auf seinem Stuhl in der Ecke, manchmal bleibt der Stuhl leer.
Nach drei Wochen sind die Ärzte sich einig. Lotta wird geboren.
5
»Herzlichen
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