Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
bist.« Sie öffnet ihre Augen. »Wie schön.« Sie hebt ihre Hand. »So lebendig bist du.« Jeder Schluckauf von ihr rückt die Welt ein Stück gerader. Happy End. Ich weine ständig.
Harry und ich haben eine neue Lieblingserzählung, deren Faden wir immer weiter spinnen: Lotta, die Kämpferin. Nicht mal drei Kilo schwer, aber stark wie ein Löwe. Lotta, das Baby, das lebt. Wir beten sie an. Wir lachen darüber, wie sehr wir ihr verfallen.
Den drei aus Duisburg schreiben wir Dankeskarten, die an Heiligsprechung grenzen. Lottas Laufstall stellen wir einen Monat später so, dass sie fast unter dem Tannenbaum liegt. Ich kleide sie ganz in Weiß. Sie ist nun nicht mehr aufgeschwemmt, sondern winzig und zart. Durchscheinende Haut, riesige dunkle Augen. Wir haben uns dieses Jahr nur was Kleines geschenkt, sagen wir.
Das Christkind bringt Lotta einen riesigen Löwen aus Plüsch und einen weißen Hochstuhl aus Holz, den gleichen, den schon Ben hat. Wir stellen ihn erst mal in den Keller. »Im Sommer«, sage ich Ben. »Dann kann sie sitzen.«
Ben schenkt ihr ein Bild zu Weihnachten, wir legen ihm Lotta in den Arm, »Halt schön fest!«, und machen Fotos. Großvaters Bildersammlung von den Enkeln breitet sich auf die zweite Wand in seinem Wohnzimmer aus. »Ich wusste, dass alles gut ausgeht«, sagt er. »Lotta, das hast du toll gemacht!«
Melanie kommt mit Luca und bringt eine Stoffpuppe vorbei. Sie ist immer noch schwanger.
Nina schickt eine Geburtsanzeige mit einem Foto von Leon. Rote Haare, Schlitzaugen. Down. »Die Arme«, denke ich.
Lotta muss wohl noch mal operiert werden. Brassel konnte das Loch in Lottas Kopf zwar verkleinern, doch noch immer fließt Blut am Gehirn vorbei. Zu viel Blut, zu viele Zuflüsse. Aber das wird gut gehen. Was einmal gut geht, geht immer gut. Lotta, die Kämpferin. Ihr Herz kommt schnell ohne Medikamente aus. Wenn man nicht dran denkt, passiert auch nichts. Gerettet. Happy End.
Auf dem Weihnachtsmarkt will Ben eine Schneekugel. Darin eingeschlossen bunte Häuser, Kinder beim Schlittschuhfahren, das Lächeln rot ins Gesicht gemalt. »Bullerbü«, sage ich zu Ben. Fest umklammert er die Kugel, ich lege meine Hände um seine. »Schön festhalten«, sage ich. »Wenn sie runterfällt, geht sie kaputt.«
»Wird sie sich denn normal entwickeln?«, fragt Frau Girschke, als wir sie das nächste Mal treffen. Eben noch hat sie sich die Augen gewischt. »Du armes Baby, was hast du schon alles hinter dir!« Nun schaut sie kritisch in den Kinderwagen.
Ich schiebe, Ben steht auf einem Rollbrett, das am Wagen hängt, den Kopf zwischen meinen Armen. Harry hat den Arm um meine Schultern gelegt. Wie miteinander verwachsen stehen wir da. In der Wintersonne werfen wir vier einen einzigen großen Schatten auf den Asphalt. Neben uns auf dem Platz steht ein Weihnachtsbaum, sechs Meter hoch. Harry und Ben waren beim Aufstellen dabei, als ich im Krankenhaus war. Die Nachbarn haben ihn mit Lichterketten und roten Schleifen geschmückt, es gab Glühwein für die Großen, warmen Kakao für die Kleinen, Weihnachtslieder. Das Winter-Platzfest – eine Tradition in der Nachbarschaft. Wir leben in einem Astrid-Lindgren-Buch.
Harry hat Frau Girschke dabei den Vortrag gehalten. Wir beherrschen mittlerweile mehrere Varianten, lang, kurz, mit viel Fachvokabular, mit wenig, für Mediziner oder für Einsteiger. Wo ist denn Ihre Frau, mit dem Baby alles gut? Vena Galeni, Autoregulation, Embolisation. Oh Gott, das arme Baby.
Frau Girschke hakt nach. »Wird sie mal auf eine normale Schule gehen können?«
Ich schaue Harry an. »Na ja«, sagt er. »Wir müssen ...«
»Die Ärzte sagen, sie hat alles, was sie braucht, um sich normal zu entwickeln«, unterbreche ich ihn.
Sie lächelt. »Na dann. Herzlichen Glückwunsch noch mal!«
Hätte sie auch gratuliert, wenn ich etwas anderes gesagt hätte? Wenn ich gesagt hätte, wir wissen es nicht? Doch ich weiß es ja. »Sie hat alles, was sie braucht«, hat uns Feldkamp gesagt. Den Rest seines Satzes lasse ich weg: »Doch wir müssen abwarten.« Wir sind gerettet. Bei uns ist alles gut. Die Bedenken von Feldkamp – sie haben sich schon einmal als unbegründet herausgestellt. Lottas Herz hat nicht versagt. Lotta lebt. Und das Wunder wird weitergehen. Abitur, mindestens. Wir haben in den Abgrund geschaut und sind darübergesprungen. Wir können das noch mal machen, kein Problem, immer wieder, wir wissen jetzt, dass unsere Kraft reicht. Wir sind unverwundbar.
Nina ruft an.
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