Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
»Stell dir vor, heute hat einer ›Herzliches Beileid‹ gesagt.«
»Was? Wer sagt denn so was?«
»Ein Penner in der Straßenbahn. Trotzdem, andere denken das nur, das sieht man.«
»Quatsch.«
»Doch. Der hat gefragt, ob ich es zu spät gemerkt habe. Hatte richtig Mitleid. ›O je‹, hat er gesagt: ›Haben Sie das zu spät gemerkt?‹«
»Vergiss den einfach.«
»Ich verstehe das nicht. Leon ist so ein Süßer, den muss man doch toll finden. Herzliches Beileid – unglaublich. Es ist doch keiner gestorben, es wurde einer geboren.«
»Ach, komm. Da musst du drüberstehen. Spinner gibt es immer. Du bist doch sonst nicht so empfindlich.«
»Und du bist doch sonst nicht so arrogant.«
Wir schweigen. Sie hat recht. Ich habe keine Ahnung, was Nina durchmacht. Im Geheimen bin ich fast ein bisschen froh darüber.
Uns betrifft das alles nicht. Ich habe genau hingeschaut: Lotta kann alle vier Gliedmaße bewegen, sie erschrickt, wenn die Tür zuknallt, also hört sie gut. Sie schmatzt und gähnt wie Ben, als er klein war. Sie kann keine Schäden davongetragen haben. Lotta wird einer von den Fällen werden, mit denen Brassel angeben kann. Sie hat gute Chancen, hören wir von vielen Seiten. Nur Feldkamp will sich nicht festlegen. »Vergiss Feldkamp«, habe ich zu Harry gesagt. »Das wird schon.« Wir sind gerettet.
»Tut mir leid«, sage ich zu Nina. »Das muss schlimm für dich gewesen sein.«
»Hey«, sagt sie warnend. »Mitleid ist Mist.«
Nicht viel später werde ich an Nina zurückdenken und ihr recht geben. Mitleid macht klein. Erhebt den einen und lässt ihn auf den anderen herabschauen. Mitleid ist nicht Mitgefühl. Mitleid ist die nette Variante der Schadenfreude. Es ist eine Versicherung an einen selbst: Mich betrifft das nicht. Durch mein Mitleid mit Nina vergewissere ich mich des Unterschieds zwischen uns. Ich stehe hier oben, dein Unglück kann mich nicht treffen. Kann es das wirklich nicht?
Lotta reißt die Augen auf, als könnte sie nicht fassen, in welcher Welt sie gelandet ist. Hellwach. »So neugierig«, sage ich. Ich trage sie durchs Haus, Ben im Schlepptau, der jeden Raum erklärt. Das Kinderzimmer: »Mein Bagger, meine Autos, mein Teddy.« Die Küche: »Magst du Pizza, Lotta?« Die weiß lackierte, steile Holztreppe, die vom Erdgeschoss bis ins Dach führt und bei jedem Schritt knarrt: »Da musst du langsam gehen.«
Die Treppe macht mir Sorgen, oben habe ich Kindersicherungen angebracht, Stoffbahnen, wie eine Schranke über den Treppenabsatz gespannt. Lange habe ich mit Ben geübt, wie er runtergehen soll, wie auf einer Leiter, mit dem Bauch zu den Stufen. Irgendwann wird trotzdem einer fallen, fürchte ich, wenn nicht er, dann Lotta. Aus dem Fenster zeigen wir ihr den alten Apfelbaum im Garten, das Spielhaus und den Sandkasten.
Wir backen Plätzchen. Ich halte Ben zwei Schürzen hin, er darf sich eine aussuchen. Rot-weiß kariert, mit einer Tasche vorne für die Plätzchenformen. Ben nimmt die mit dem aufgestickten Elefanten. Die andere mit dem Schaukelpferd reserviere ich für Lotta. »Nächstes Weihnachten kann sie schon mitmachen«, sage ich zu Ben. Wir stellen ihren Laufstall so, dass sie zusehen kann, wie Ben Streusel auf den Plätzchen und auf dem Parkett unterm Tisch verteilt. »Willst du probieren, Lotta?«
Über der weißen Wickelkommode tanzen Fische durch die Luft, buntes Seidenpapier gespannt über dünne Bambusstäbe. Als Ben kleiner war, musste ich das Mobile immer wieder anstupsen, jedes Mal hat er gejuchzt vor Freude und mit Beinen und Armen gerudert, als wollte er abheben und mit den Fischen um die Wette fliegen. »Lotta schau mal!«, ruft Ben und zupft an meiner Jeans, bis ich die Fische mit einem Pusten zum Fliegen bringe. Lottas Blick gleitet von der Wickelkommode, zur Lampe, über mich, zur Zimmerdecke. »Sie ist noch zu klein«, sage ich zu Ben. »Sie lernt noch, genauer zu gucken.«
In den nächsten Wochen wird er oft seinen Hocker aus dem Badezimmer ziehen, auf den er immer steigt, um an das Waschbecken zu kommen, diesmal um beim Wickeln dabei zu sein. »Pusten, pusten!« Die Fische tanzen, Lotta schaut an ihnen vorbei.
Alles scheint gleichermaßen interessant, nichts hält länger ihren Blick. Oft hängt er an der Zimmerdecke. Ernst, forschend, die Augen weit aufgerissen. Vielleicht kann sie die Großmutter sehen, sage ich abends zu Harry. Vielleicht hängt sie als Schutzengel oben an der Wohnzimmerdecke. »Da sieht man mal, wie unterschiedlich Kinder sind«,
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