Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
erzählen wir dem Großvater.
»Du bist eben schlau«, lobt er Lotta. »Nicht wahr, das Mobile ist dir zu langweilig. Du suchst dir interessanteres Spielzeug.« Er wolle ihr selbst etwas kaufen, sagt er. »Ich finde schon das Richtige für mein schlaues Mädchen.«
Ich halte Lottas Kopf in meiner linken Hand, sie liegt auf der Wickelkommode. Die rechte Hand lege ich ihr auf den Brustkorb und beuge mich über sie. Das ist die leichteste Art, die Aufmerksamkeit eines Babys zu bekommen, den Griff habe ich mir nach Bens Geburt bei unserer Kinderärztin abgeschaut. »Hallo, Lotta«, locke ich. Die Zimmerdecke, mein linkes Ohr, ein Streifen über mein Gesicht, wieder die Decke. Wann hat Ben gelernt, mir in die Augen zu sehen? Im Regal steht ein Buch, das genau aufschlüsselt, wann ein Baby welchen Entwicklungsschritt macht. Ich schaue nicht nach. »Du hast noch Zeit«, sage ich Lotta. Ihr kleiner Kopf liegt ganz leicht in meiner Hand, mit der anderen spüre ich ihren Herzschlag. Ihre Augen wandern durch den Raum. »Lass dir ruhig Zeit«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.
»Black Box«, hat Feldkamp gesagt. »Das Gehirn ist eine Black Box.« Er spricht von Systemtheorie: Man kann nur Input und Output messen, was drinnen geschieht, bleibt verborgen. »Das Gehirn kann viel kompensieren, doch was kommt, weiß keiner.«
Zu dieser Zeit wünsche ich mir nichts mehr als das. Ich will in die Zukunft sehen. Nur ganz kurz. Wenn ich damals drei Jahre hätte überspringen können, für einen einzigen Blick auf Lotta auf meinem Arm – hätte ich mich erschreckt? Hätte ich nur gesehen, was schrecklich ist?
6
»Schwester Sandra«
Von elektiven Eingriffen und dem Leben auf der Intensivstation
»Ich wohne in den Wolken,
ich bin ein Tropfenkind.
Wenn’s regnet, fall ich runter
und tanze mit dem Wind ...«
Ich weiß jetzt, welche Musik wir spielen würden. Lottas Kopf ruht in meinen Händen, wir zwei im warmen Badewasser, in Gedanken stehe ich wieder am Grab meiner Schwiegermutter. Ich singe und lasse im Takt Badewasser auf Lottas Kopf tropfen. Ich sollte mich verabschieden.
Hirnblutung, Herzprobleme, Komplikationen. Die Gefahren sind unwahrscheinlich, doch zahlreich. Gehen wir das Risiko einer weiteren OP ein? Gehen wir das Risiko ein, nicht zu operieren? In beiden Fällen droht der Tod, schlimmstenfalls. Wir könnten einfach operieren, sobald es ihr schlechter geht. Doch wenn wir warten, riskieren wir Hirnpotenzial. Falls die Embolisationen erfolgreich sind, könnten sie Lottas Hirnentwicklung unterstützen: Mehr Blut an den richtigen Stellen gleich bessere Entwicklungsmöglichkeiten – diese Gleichung erscheint uns logisch. Versprechen können uns Brassel und Feldkamp nichts. »Wir hoffen«, sagen sie. »Wir nehmen an.«
Harry und ich müssen diese Entscheidung für Lotta fällen. Wir können sie nicht fragen und auch die Ärzte können sie uns nicht abnehmen. Wie trifft man diese Entscheidung – für jemand anderen? Harry geht bei Herzklopfen und Schlaflosigkeit zum Kardiologen, ich habe bei Krankheiten das Motto meiner Oma übernommen: Ist von allein gekommen, wird von allein wieder gehen. Jetzt müssen wir uns einigen. Welcher Typ wäre Lotta? Am Anfang stehen wir mit dem Rücken zur Wand, Lottas Herz macht es dringend nötig zu operieren. Doch je öfter wir nach Duisburg fahren, je mehr Blutzuflüsse verstopft sind, desto schwieriger wird es, die Risiken gegeneinander abzuwägen. Was können wir gewinnen? Was können wir verlieren? Alles – in beiden Fällen. Es ist ein »elektiver Eingriff«, eine Wahl.
Wie sollen wir wählen? Über die Anschaffung unseres Sofas haben wir wochenlang diskutiert, haben Pro- und Kontra-Listen erstellt und die Umrisse auf dem Wohnzimmerboden mit Zeitungspapier ausgelegt. Es waren lange Verhandlungen. Was, wenn wir auch über die OPs so diskutieren? Kann uns diese Frage auseinanderreißen? Sieben Mal stehen wir in knapp drei Jahren vor dieser Entscheidung. Wir haben Glück. Wir sind sofort einer Meinung.
Die kaputte Rolltreppe, die leuchtenden Tiere, das Spielschiff – wir begrüßen sie freudig wie alte Bekannte. Sie sind gute Zeichen.
»Weißt du noch?«, sagt Harry, als wir über den Hof gehen.
»Und jetzt schau dir unser Mädchen an!«, antworte ich. »Was wird Feldkamp staunen.«
Wir sind zurück am Ort unserer schlimmsten Ängste und tragen Lotta in ihrem kleinen Autositz vor uns her wie den Beweis unseres Triumphs. Wir besuchen die Geburtenstation, den Kreißsaal,
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