Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
die Kinderintensivstation. Schaut her, ihr Leute. Dieser wache Blick. Diese kleinen Fingernägel. Diese perfekten Ohrmuscheln. Ist sie nicht schön? Ist sie nicht ein Kämpfer? Ein Wunder? All ihr, die geunkt und gewarnt habt. Die ihr gesprochen habt von Herzen, die versagen, von Löchern im Kopf. Schaut her. Die Welt ist gut, denn Lotta trinkt so viel, die Welt ist schön, denn Lotta ist es auch.
»Ist die groß geworden!«, sagen die Schwestern.
»Ja, nicht wahr?«, sage ich. »Und schon 12 Wochen alt.«
Die Neurologin bei der Voruntersuchung für die zweite OP ist jung und lächelt. Harry breitet die Babydecke auf der Untersuchungsliege aus, ich ziehe Lotta ihren schönsten Strampler aus. Sie beginnt gellend zu schreien. Die Neurologin schaut, tastet und nimmt Lotta hoch. »Was die alles schon weggesteckt hat ...«, sagt Harry. »Würde man nicht denken, oder?«
»Unsere Kämpferin.« Ich streichele Lottas nackten Rücken. »Schhh, ist doch gut, Lotta.«
Die Neurologin lächelt nicht mehr. »Der Muskeltonus ist erhöht.«
»Tonus?«, fragt Harry.
»Sie macht sich zu steif«, sagt die Ärztin.
»Weil sie schreit«, sage ich. »Nur, weil sie schreit.«
»Sie ist sonst viel entspannter«, sagt Harry. »Wenn sie nicht schreit.«
Als wir den Raum verlassen, schimpft er: »Inkompetent.« Zu jung, zu unsicher, was erlaubt die sich? Als wir Feldkamp treffen, beschweren wir uns.
»Aber ...«, wird Melanie später fragen. »Was macht ihr während der OPs?« Zehn Stunden, zwölf Stunden, einmal sogar 14 Stunden müssen wir warten, bis wir wissen, ob Lotta weiterlebt. »Wie haltet ihr das aus?«
»Wir kaufen ihr ein Kleid«, antworte ich. Wir singen laut im Wald und es hilft. Das orange-weiß karierte, das blaue Cord-Kleid, das pinkfarbene für den Sommer. Die Embo-Kleider nennen wir sie. Lotta hat in jeder Saison ein neues, nebeneinander lasse ich sie in ihrem weißen Kleiderschrank hängen wie Medaillen für einen Sieg.
Ich erzähle Melanie nicht, wie ich beim ersten Mal vor der OP-Schleuse sitzen bleiben wollte. Wie Harry mich wegzog. Du musst dich ablenken. Du musst was essen. Komm, wir fahren in die Stadt und kaufen ihr ein Kleid. Wie ich denke: Du hast es gut – du hast einen, für den du stark sein kannst. Mich.
Vom ersten Mal an schaffen wir Traditionen. Immer dasselbe Parkhaus, immer ein Kaffee in demselben Café, immer ein Stück Kuchen dazu. Einmal hat das Café geschlossen. »Das gefällt mir nicht«, sagt Harry. Lange stehen wir vor der geschlossenen Tür, bevor wir weitergehen. Ich kaufe mir neue Schuhe. Später werde ich merken, sie sind zu eng.
Wir versuchen die Bilder im Kopf zu übertünchen. Wie ich Lotta am Abend vorher die Fingernägel feile, jedes Mal, als ob sie mit gepflegten Nägeln besser gerüstet wäre für das, was kommt. Wie fragend sie schaut, wenn die Schwester statt Frühstück Beruhigungsmittel bringt. Wie ich sie auf dem OP-Tisch liegen lasse, mit der Maske auf dem Gesicht, eingeschlafen, narkotisiert. Wie die Ärzte sagen: Jetzt können Sie gehen. Trinken Sie einen Kaffee, Frau Roth, gehen Sie frühstücken. Wie eine Schwester meinen Oberarm berührt, mich sanft zur Tür schiebt und die Schleuse hinter mir schließt. Wie ich sage: Passen Sie gut auf Lotta auf. Bitte.
»Das wird ihr gut stehen«, sagt Harry und hält ein Jeanskleid hoch. Wir sind unverwundbar. Bestimmt.
Wir sind zu früh in der Klinik. »Haben Sie etwas gehört?«, fragen wir die Schwestern. Kopfschütteln. Wir sitzen auf unbequemen Stühlen und betrachten die Wände der Intensivstation. Daran Kinderfotos und Heldengeschichten. »Unsere Karina war einmal ... Doch heute ...« Liebeserklärungen an die Schwestern, Danksagungen an die Ärzte. Das Bild eines Clowns, tanzend. Daneben auf einer Tafel angeschrieben: »Jeden zweiten Freitag, 13 Uhr: Wiederbelebungskurs (nur bei mindestens zwei angemeldeten Elternpaaren).«
»Professor Brassel hat angerufen«, ruft die Schwester herüber. »Alles gut, aber Sie sollen mal vor den OP kommen.«
Wir rennen die Treppe runter, durch den Flur, so schnell, dass uns die Leute hinterherschauen, vor die Schleusentür, da kommt er heraus. Grün von Kopf bis Fuß, Plastiküberzüge über den Schuhen. »Ich wollte nur sagen, es dauert noch«, sagt er. »Bis jetzt läuft es gut. Sie müssen doch vergehen vor Sorge, nicht?«
Ich halte mich an der Wand fest, ich habe Seitenstechen.
Harry sagt: »Danke, ja. Bis jetzt läuft es gut?«
»Sehr gut«, sagt Brassel und wippt in
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