Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Nachmittag lang Mama-Sohn-Zeit für Ben und mich. Nur wir zwei und das Klettergerüst.
Was wäre, wenn wir Jodi nicht hätten? Wenn ich niemandem Lotta anvertrauen könnte oder wollte? »Und wir sollten wieder mal essen gehen«, sage ich. »Wir müssen auch auf uns achtgeben.«
»70 Prozent der Ehen mit ... so einem Kind scheitern.« Ich setze mein Glas ab. »Hab ich gehört«, setzt er nach.
»Na, toll. Dann haben wir ja eine Entschuldigung.« Wir schweigen. »Aber immerhin schaffen es 30 Prozent«, sage ich. »Und wie viel Ehen werden sowieso schon geschieden? Jede dritte? Jede zweite? Und die haben kein ... Die haben kein Kind, das so ist.«
»Man kann auch an zu viel Glück scheitern.«
Unser Plan zur Rettung unserer Ehe, bevor sie überhaupt bedroht ist: ausgehen, reden, Zeit verbringen. Wird das reichen?
»Ich sage nur 1:25 000«, sagt Harry. »Was sind schon Wahrscheinlichkeiten?«
Stimmt es, was Harry gehört hat? Später werde ich das recherchieren und erfahren, dass die Scheidungsrate wahrscheinlich wirklich höher liegt als bei Paaren ohne behinderte Kinder. Verlässliche Zahlen allerdings gibt es nicht.
Das Wort Behinderung meiden wir wie eine schmerzende Stelle. Wir tasten mit der Zunge im Mund drum herum: Da tut es noch nicht weh, hier nur ein bisschen, dort geht es gerade noch. Wenn wir zu nah rankommen, zucken wir zusammen und verfallen in Schweigen. Nur um kurze Zeit später wieder anzufangen.
»Wer, wenn nicht wir?«, sagt Harry. »Wir haben so viel: Ben, das Haus, uns. Ich habe einen festen Job. Unsere Familie steht hinter uns. Wir können immer hierhin.« Er zeigt Richtung Meer. »Wenn wir das nicht schaffen, wer dann?«
Am Himmel stehen mehr Sterne, als man in der Stadt jemals zu sehen bekommt. Als wir mit Ben gestern eine kurze Nachtwanderung gemacht haben, mit der Taschenlampe durch den Garten, hat er nur nach oben geschaut, Kopf im Nacken. Ein Anblick so schön, dass es ganz leicht war, an das gute Ende dieser Geschichte zu glauben. »Aber was, wenn es so wird wie bei dem Jungen am Strand?«
Es wird so kalt, dass wir uns Wolldecken holen. Die Kerze ist runtergebrannt. Wir sitzen im Dunkeln und starren nach oben. »Wenn sie was hat, dann bitte körperlich«, sagt Harry leise. »Lass sie geistig da sein.«
An diesem Abend beginnen wir mit dem Schicksal zu verhandeln. Lass uns das Reden, das Verstehen, den Rollstuhl könnten wir akzeptieren, aber lass uns ein Lächeln. Wir erstellen eine Hierarchie dessen, was wir uns für unsere Tochter wünschen. Wir versuchen, unsere Ansprüche nach unten zu schrauben. Die Verhandlungen werden sich über die nächsten Jahre ziehen.
9
»Kann ich irgendwie helfen?«
Vom Schreien, Zweifeln und einer, die nicht Nina Ruge ist
Ich sitze im Wartezimmer, den ganzen Flur entlang reihen sich die Patienten. Es ist zu warm, Lotta jammert. Die Arzthelferin kommt, sagt: »Oh, so klein. Wie ich das hasse!« und zerrt Lottas Augenlider auseinander, um ihr aus einer Ampulle Flüssigkeit in die Augen zu tropfen. Lotta schreit auf, ich nehme sie auf die Schulter und gehe auf und ab. Eine ältere Dame verfolgt uns mit den Augen. Ich blicke zu Boden, und dennoch: »Was hat sie denn?«
»Augenuntersuchung.«
»Ist das denn normal? Untersucht man jetzt schon so Kleine?«
»Nein. Nur bei Verdacht.«
Ich wechsele die Richtung. Die Dame kommt hinterher. »Was für ein Verdacht?«
»Dass was nicht stimmt.«
»Was denn?«
Ich schaue mich um und entdecke das Schild für den Wickelraum.
Drinnen lasse ich mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Lotta liegt auf der Wickelablage und starrt mit riesigen Pupillen an die Wand. Ich öffne die Tür einen Spalt und sehe Harry hereinkommen. Ich winke ihn zu mir.
Warum sieht Lotta mir nicht in die Augen? Warum schaut sie an jeder Rassel vorbei? »Da stimmt etwas nicht«, habe ich gesagt. Immer wieder. Unsere Hebamme hat vermutet: »Lotta ist überdreht. Die muss mal runterkommen.« Sie hat ein Beruhigungsprogramm verordnet, unsere Kinderärztin ein homöopathisches Mittel. Lotta hat ihre Augen weiter wandern lassen und nichts länger als ein paar Sekunden betrachtet. Als Lotta vier Monate alt war, haben wir sie zum Augenarzt gebracht. Der sagte: »Entwicklungsverzögerung.« Letzte Woche hat er gesagt: »Jetzt wird es aber langsam Zeit, dass sie das lernt.« Wir haben ihm die MRT-Unterlagen aus Duisburg zuschicken lassen. Danach hat er uns angerufen und zu einem neuen Termin einbestellt.
Er schweigt zu lange. Eben
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