Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
Vom Netzwerk:
ich, als er herauskommt und sagt, dass sie jetzt schläft. Danke, dass du da bist. Danke, dass du nicht abends länger im Büro bleibst. Ich könnte es verstehen.
    »Das kann doch nicht so weitergehen«, sagt Harry. »Lange kann ich das nicht mehr.«
    »Wieso du? Wieso kannst du nicht mehr? Weißt du, was ich ...?«
    »Willst du jetzt streiten?«
    Wir sitzen nebeneinander auf den Stufen und starren ins Leere. Wir berühren uns nicht.

    Meine Mutter sitzt im Wohnzimmer und puzzelt mit Ben, während ich im abgedunkelten Schlafzimmer Lotta trage. Auf und ab, auf und ab. Schreien, wieder, gegen das Geklimper der Spieluhr. Guten Abend, gute Nacht . Was soll das für ein Leben sein? Behindert. Blind. Mit Rosen bedacht . Jahre warten, bevor man weiß, was wird. Mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck . Ich gehe ins Badezimmer, Lotta schreit über meine Schulter. Annehmen. Mit der freien Hand greife ich mir ein schmutziges Handtuch und schleudere es so heftig in den Wäschekorb, dass der umkippt. Morgen früh, so Gott will, wirst du wieder geweckt . Was haben wir getan? War es richtig, an die Hoffnung zu glauben, an die Ärzte? Habe ich bloß nicht abgetrieben, weil ich keine Kraft dazu hatte? Habe ich denn genug Kraft, um das hier auszuhalten? Was soll das für ein Leben werden? Für Lotta, für uns. Ist nun alles vorbei, was wir hatten? Guten Abend, gute Nacht. Mit Rosen bedacht .
    Ich starre den Wäschekorb an. Er liegt auf der Seite. Schmutzige Socken, Unterwäsche, Lottas schönstes T-Shirt liegen durcheinander auf dem Boden. Lotta schreit an meiner Schulter. Ich atme durch, eins, zwei, drei, und lege meine freie Hand auf ihren bebenden Rücken. Ich singe: »Mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck.« Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Lottas Schreie werden leiser, die Pause dazwischen länger, ihr Körper entspannt sich. Sie kuschelt sich an meinen Hals, ihr Mund atmet feuchte Luft dagegen. Ich streichele ihren Kopf. Ihre wenigen Haare sind verschwitzt. »Ist ja gut.«
    Zweifel gedeihen am besten bei Müdigkeit und Erschöpfung, bei schmerzenden Armen vom Tragen, bei Hunger und Stress. Annehmen – das geht leichter, wenn es leise ist. Ich kaufe alle Schnuller-Modelle, die auf dem Markt zu finden sind. Kirschkernform, Silikon, Naturkautschuk, stillfreundlich, pink, blau, im Dunkeln leuchtend. Wir trainieren. Ich hänge an Lottas Lippen. Als sie sich um einen Schnuller schließen und Lotta zu saugen beginnt, lasse ich einen Schrei los, dass sie ihn erschrocken wieder fallen lässt.
    Lotta kann schnullern. Wir können es schaffen.

    »Schreikind«, sagt Feldkamp aus Duisburg.
    »Regulationsstörung«, sagt unsere Kinderärztin. Lotta habe Schwierigkeiten, die vielen Reize zu verarbeiten.
    »Vielleicht braucht sie einfach deine Nähe«, sagt unsere Hebamme.
    Ich nehme Lotta auch zu Hause ins Tragetuch. Ben ist ein kleiner Mond, der mich umkreist, als wäre ich sein Planet, Lotta ist ein Meteorit, der auf mir eingeschlagen ist und einen großen Krater bildet, unter meinem Tragetuch.
    Wenn Ben zuschaut, wie ich Lotta trage, versuche ich geduldig auszusehen. Ich summe, sie schreit, er hält sich die Ohren zu. Ich lächele ihn an. »Du hast auch manchmal geweint, als du klein warst.«
    Als Lotta leiser wird an meiner Schulter, fragt Ben: »Findest du das schön, wenn Babys weinen?«
    »Nein. Ich finde das ...«
    »Doof«, stößt er hervor und schaut ertappt.
    Ich grinse, erleichtert lächelt er zurück. »Ja, richtig doof!«
    Das wird unser Codewort. »Das darf man auch mal sagen, oder, Mama?«
    »Ja. Wenn es so ist – dann muss man sogar.« Wenn ich jetzt die schreiende Lotta trage, stöhne ich: »Hör auf, Lotta, das nervt.«
    Ben grinst. Wir sind Komplizen.
    Wenn Lotta doch mal ruhig auf der Decke liegt, renne ich befreit durchs Haus, nicht wissend, was ich zuerst erledigen soll. Ich bringe den Müll raus. Draußen vor der Garageneinfahrt treffe ich eine Nachbarin. »Du siehst so anders aus. Hast du die Haare ...?« Sie rätselt. »Nein, du hast kein Kind auf dem Arm.« Wir lachen. »Aber im Ernst«, sagt sie. »Wir hören sie ja. Wenn du nicht mehr kannst, dann bring sie rüber. Ich kann das ab, für eine halbe Stunde.«
    Ich habe Hilfe. Ich habe Harry, ich habe meine Mutter, Jodi, Freunde, Nachbarn. Und doch bilden Lotta und ich eine Symbiose. Wenn Lotta nicht an mir hängt, fühle ich mich nackt wie jemand, der die Armbanduhr, die er seit dreißig Jahren am rechten Handgelenk trägt, heute nicht

Weitere Kostenlose Bücher