Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Verschwunden hinter dem Rollstuhl, verschluckt von ihrem Kind. Eine Frau Mitte 40, Sonnenbrille im langen blonden Haar, pinkes Top, Minirock. Er hat seine Cargohose hochgekrempelt, braun gebrannt. Beide scheinen unsere Blicke gar nicht zu bemerken. Beide konzentrieren sich darauf, den Rollstuhl auf dem Weg zu halten und den Sandlöchern auszuweichen.
Sie lassen sich nicht weit von uns nieder. Breiten eine Decke aus, packen Sonnencreme und Bücher aus, den Jungen im Rollstuhl parken sie daneben. Er fuchtelt mit den Armen und brüllt etwas Unverständliches Richtung Meer. Ben sieht rüber, fuchtelt auch mit den Armen und brüllt ebenfalls los. »Der ist ja lustig«, sagt er.
Ist er das? War das ein Begeisterungsschrei? Findet er es schön hier? Was hat er vom Strand, wenn er nicht wie Ben im Sand sitzen und eine Sandburg bauen kann? Wie wenig ich über solche Kinder weiß. Mag er keine Möwen, so wie Ben? Will er abends nie ins Bett? Kann er lächeln?
»Wie halten die Eltern das aus?«, fragt Harry abends auf der Terrasse. Die Kinder sind längst eingeschlafen. Ich habe ein Windlicht angezündet, Harry hat neue Ameisenfallen aufgestellt und den Rest Eistee eingeschenkt. »Könntest du dich neben so einem Kind einfach in die Sonne legen?«
Ich schüttele den Kopf. »Müssen wir jetzt darüber reden?«
»Irgendwann müssen wir, oder?«
Ich gehe zurück in die Küche und schneide den Käse, den wir heute Morgen auf dem Markt gekauft haben, in kleine Würfel.
Als ich damit zurückkomme, fragt er: »Warum wir?«
»Eine Laune der Natur«, zitiere ich Feldkamp.
»Das ist die Quittung. Wir haben zu viel gewollt, zu schnell.«
»Aber schau dir unsere Nachbarn an. Sechs gesunde Kinder.« Wir schweigen über so viel Glück. »Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, ich bin schuld«, sage ich. »Ich habe nicht richtig auf sie aufgepasst.«
»Quatsch. Lotta ist nicht vom Klettergerüst gefallen, sie hat eine angeborene Fehlbildung, für die keiner etwas kann. Das ist nicht erblich, das hat nichts mit deiner Ernährung zu tun, das ...«
»Ich weiß.«
Die Frage nach dem »Warum« ist die schwerste. Wir lassen sie nur kurz anklingen, wir weichen ihr aus. Die Ärzte haben uns gesagt, dass Lottas Malformation ein Zufall ist, doch was ist schwerer auszuhalten als der Zufall? Schuld erscheint fast leichter. Ich habe die Folsäuretabletten vergessen, wir waren zu gierig nach noch mehr Glück, wir sind zu nah an der Sonne geflogen und unsere Flügel sind geschmolzen. Wenn wir Schuld hätten, hätten wir es in der Hand, dass so etwas nicht noch mal passiert. Wenn nicht, gibt es kein Halten mehr, keine Sicherheit, dass es nicht noch schlimmer kommt.
Nina hat dafür ihre eigene Lösung. »Besondere Kinder kommen nur zu besonderen Leuten«, hat sie kurz nach seiner Geburt über Leon gesagt. »Er hat uns ausgesucht. Er wusste, dass er es bei uns gut haben würde.«
Es ist eine Erklärung, die ich noch oft hören werde, von vielen Eltern behinderter Kinder. Ein krankes oder behindertes Kind nicht als Strafe für Hybris oder als Folge mangelnder Vorsorge – ein solches Kind als Auszeichnung für mentale Stärke. »Dann wäre ich lieber schwach«, sage ich zu Harry. »Und Lotta hätte nichts.«
Die Frage nach dem »Warum« – alle wollen sie für uns beantworten. Wir werden ein Buch geschenkt bekommen, über ein ungeborenes Kind, das im Regenbogenland wohnt und sich seine Eltern aussucht, um ihnen zu zeigen, dass ihre Sorgen gar nicht so wichtig sind. Eine Nachbarin meines Schwiegervaters wird mir eine Geschichte kopieren und in den Briefkasten stecken: Ein Engel schimpft mit Gott, warum er gerade dieser Frau ein behindertes Kind schenke: »Sie glaubt doch noch nicht mal an dich.« »Ja«, antwortet Gott. »Aber wenn das Kind lernt, ›Mama‹ zu sagen, wird sie wissen, dass es mich gibt.«
Ein behindertes Kind als Gottesbeweis. Selbst die abstruseste Theorie scheint leichter zu verkraften zu sein als der Zufall. Werden Harry und ich lernen, ihn auszuhalten?
»Was ist mit Ben?«, frage ich Harry. »Ich bin viel zu oft im Krankenhaus.«
»Ach, wir haben schon unseren Spaß ohne dich. Nur wir Männer.«
»Jeden Morgen Kinderfernsehen und Schokolade im Bett!«
»Diese kleine Petze.« Wir lachen, Harry schenkt mir Eistee nach. »Aber wir müssen aufpassen, dass Ben nicht hinten runterfällt«, sagt er. »Er sollte nicht immer Rücksicht nehmen müssen.«
Wir machen uns einen Plan: Jodi wird einmal die Woche Lotta nehmen, ein
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