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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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»Ich musste sie trösten«, hat Harry erzählt. »Ich sie, statt umgekehrt.« Mitleider kommen immer wieder, als wollten sie weiterleiden. Jedes Mal, wenn man sie trifft, dasselbe Thema. Harry hat eine einfache Abwehrmethode entwickelt. Er ist schneller. »Hallo, Frau Girschke, Sie Arme, Sie sehen aber heute gar nicht gut aus. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Hand auf die Schulter. »Und Ihr Mann – wie man hört, geht es dem ja gar nicht gut?« Umarmen.
    »Waren das Tränen in deinen Augen?«, frage ich Harry, als wir weitergehen und die verwirrte Frau Girschke stehen lassen. Er grinst.
    Das Gegenteil sind die Wegdrücker. Sie sind so überwältigt von der schlechten Nachricht, dass sie auf der Tagesordnung direkt einen Punkt weitergehen. »Schrecklich. Und hast du von Stefan gehört? Herzinfarkt.«
    Ja, schrecklich, Stefan.
    »Und die Weilers sind in Mexiko überfallen worden.«
    In Mexiko. Nicht dein Ernst.
    »Hilflosigkeit«, sage ich zu Harry. »Überfordert.«
    »Trotzdem«, sagt er.
    Melanie gehört nach dem ersten Schock zur Fraktion Nina Ruge. Alles wird gut. Wenn man nicht dran denkt, passiert auch nichts. Das wird schon. Nun mach dir keinen Kopf. Wie bist du denn drauf? Man könnte von Krebs im Endstadium reden, diese Menschen würden davon erzählen, welch heilsame Wirkung Brokkoli haben soll. »Das Wichtigste ist, dass du die Hoffnung nicht aufgibst.«
    Clara passt in keine Schublade. Sie macht das, was Harry und mir am liebsten ist: Sie spult kein Programm ab. Sie weint nicht. Sie fragt nach und hört zu.
    Was war ich selbst? Bevor ich selbst betroffen war, damals, als mir andere erzählten vom Brustkrebs der Mutter oder der Risikoschwangerschaft der Schwester? Ich hoffe, eine Clara, doch ich fürchte, eine Melanie. Ich wusste nicht, dass Optimismus so verletzend sein kann. Dass manche Probleme nicht danach verlangen, dass jemand direkt eine Lösung präsentiert, sondern nur danach, dass jemand zuhört.

    Clara sieht nicht aus wie die Clara aus Heidi. Dunkle, gewellte Haare bis zum Kinn, ein paar Falten um die Augen und eine tiefe zwischen den Brauen, eine Nase, die nach oben zeigt, grüne Augen. Eine Figur, der man ansieht, dass sie jede Woche Squash spielt, mit ihren Kollegen. »Ich bin Richterin«, sagt sie. »Wenn Ben will, darf er mich mal im Gericht besuchen, wenn ich wieder arbeite.« Vierzig Jahre alt, zwei Kinder, ein Haus noch immer voller Umzugskisten.
    »Das klingt jetzt hart«, sagt sie später. »Aber du musst es annehmen. Das ist wie eine Welle. Wenn du dagegen ankämpfst, schmeißt sie dich um. Du musst drunter durchtauchen.«
    »Du sagt das so einfach, aber dir geht es gut.«
    »Ich bin geschieden.«
    Eigentlich war sie mir sehr sympathisch. »Das willst du doch nicht vergleichen, oder?«
    »Nein, natürlich nicht. Entschuldige. Das kam falsch raus. Aber ...«, sie zögert, »ich weiß, wie es ist, wenn ein Traum zerplatzt. Wenn etwas, das man für selbstverständlich hält, plötzlich nicht mehr gilt.«
    Fritz stürmt die Treppe hoch, Ben hinterher. »Mama, die haben Handschellen!«

    Annehmen, wie soll das gehen?
    Ich bin Lottas Arme. Ihre Beine. Ihre Augen. Was bin ich sonst noch? Ich bin Wir. Wir ziehen Ben die Hose hoch. Wir föhnen mir die Haare. Lotta lebt auf meinem Arm. Wenn ich sie auf die Decke lege, beginnt sie schnell und gellend zu schreien. Laut, schrill, immer schneller, je länger die Atempause, desto spitzer der Schrei danach. Wann hat es angefangen? Ich weiß es nicht mehr. Mit drei Monaten, mit vier?
    Lotta stellt Rekorde auf, eine Stunde im Kinderwagen, drei Stunden im Auto auf dem Weg nach Holland. Brüllen. Kreischen. Jaulen. In höchster Not, doch scheinbar ohne Grund. Hunger, Müdigkeit, Koliken – Fehlanzeige. Der ganze Körper angespannt, die Beine angezogen, die Arme an den Körper geklappt, der Unterkiefer zitternd. Ein Körper, der im Takt der Schreie bebt. Schreien bis zur Erschöpfung. Stundenlang. Nachts stopfe ich mir ein Kissen in den Rücken, lege Lotta auf meinen Bauch und versuche für sie da zu sein. Lotta schreit, schreit, schreit, bis wir beide vor Erschöpfung einschlafen, im Sitzen, angelehnt an das Kissen. Wochen. Monate. Jahre? Die Tage verschwimmen, während ich sie halte. Ich bin immer müde jetzt.
    Manchmal tippt mir Harry auf die Schulter. Ich setze mich draußen auf die Stufen, den Kopf in den Händen und höre ihn ansummen gegen das Kreischen. Tonleitern. Tiefes Brummen gegen spitze Schreie. Mmmh, mmmhhh, mmmhhh. »Danke«, sage

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