Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Krankenhaus muss. »Das war es dann wohl, oder?«, sagt sie. »Deinen alten Job kannst du vergessen.«
Kann ich? Muss ich? Habe ich eine Wahl? Noch glaube ich nicht, dass meine Entscheidung von Dauer sein wird. Ich werde Lotta auf die richtige Bahn bringen und dann wird alles wie früher. Ich will arbeiten. Ich will, dass Lotta einmal laufen kann. Ich will viel, das ist mir bewusst. Ist es zuviel?
Physiotherapie, zweimal die Woche. Hausbesuch. Eine Frau um die 50, brauner Bubikopf, Lederleggings. Sie wurde uns vom Neurologen empfohlen und arbeitet sonst im Krankenhaus. Ich biete Kaffee an, danach stellen wir uns vor die Wickelkommode und verrenken Lotta. Krankengymnastik nach Václav Vojta. Lotta muss auf dem Bauch liegen, die Physiotherapeutin zieht ihr linkes Bein nach unten und ihren rechten Arm nach oben. Sie drückt mit ihrem Zeigefinger an einen bestimmten Punkt auf der Ferse und oben auf dem Ellenbogen, so fest, dass ihre Finger in dem weichen Babyfleisch versinken. Lotta brüllt, darüber tanzen die Fische des Mobiles durch die Luft. »Und halten, und halten, und halten«, sagt sie. Lotta schreit, schreit, schreit. Ich stehe daneben und sage: »Ist gleich vorbei, Schatz!«
Durch Druck auf bestimmte Körperpunkte und Zug an anderen soll die sogenannte »Reflexlokomotion« ausgelöst werden, Bewegungsmuster, die ohne willentliches Zutun ablaufen. So soll Entwicklung angestoßen werden. Vojta ist die Variante für die harten Fälle. Viele Eltern wären später ganz begeistert von dem Effekt, sagt die Therapeutin.
Wir haben insgesamt vier Positionen, die wir halten müssen. »Dreimal am Tag«, sagt sie. »Zehn Minuten oder mehr.« Sie zeigt mir, wo ich drücken soll.
»So lange?«
»Da muss sie durch. Daran gewöhnt sie sich.«
Nach einem halben Jahr schreit Lotta immer noch. Ich muss sie nur auf die Wickelkommode legen, schon verzieht sie ihr Gesicht. »Sie hat Angst«, sage ich zu Harry.
»Aber wenn es hilft?«
Tut es das? Sehe ich Fortschritte? Ich bin mir nicht sicher. Hält sie ihren Kopf sicherer?
»Die Sitzungen mit der Physiotherapeutin dienen der Anleitung der Mutter«, so steht es in einer unserer Broschüren. Vom Vater ist dort nicht mal pro forma die Rede. Physio ist meine Aufgabe. Aber tue ich das Richtige? Werde ich irgendwann von dem Effekt schwärmen, den diese Therapie auf sie hatte? Wird das, was ich so ungern mache, Lotta helfen, laufen zu lernen?
Ihre Augen sind meine nächste Baustelle. Auch sehen kann man fördern. Organisch sollte Lotta sehen können, ihre Augen sind völlig in Ordnung. Sie empfängt die Signale. Sie kann nur nichts mit ihnen anfangen. Bei der Sehfrühförderung werden nicht so sehr die Augen trainiert, sondern das Gehirn. Die Kölner Blindenschule hat eine Abteilung dafür, in NRW hat man einen Rechtsanspruch auf Förderstunden.
Zu uns kommt Martina Schmidt. Raue Stimme, herzliches Lachen. Auf dem Fahrrad schleppt sie Taschen voller glitzerndem Spielzeug an. Gemeinsam sitzen wir im abgedunkelten Schlafzimmer und leuchten mit der Taschenlampe darauf. Blind sein heißt nicht, dass man im Dunkeln lebt. Zumindest bei den meisten nicht. Oft ist ein Sehrest vorhanden, den man trainieren kann. Lotta braucht starke Reize. Schwarz-weißes, Glitzerndes, alles, was auch bei starkem Nebel noch leuchten würde. Prinzessin Lillifee ist unsichtbar.
Ich laufe durch die Kinderläden und sehe nur, was schwarz-weiß ist. Ein Pandabär, ein Dalmatiner, ein Zebra. Ein Pinguin, ein Panther, eine Kuh. Ich dekoriere Lottas Laufstall um. Das rosa Plüschpferd von Nina fliegt raus. Lotta liegt nun vor einer schwarz-weißen Front. »Und wie reagiert Lotta auf diese reizintensive Umgebung?«, fragt Frau Schmidt.
Ich verstehe und räume die Kuscheltiere öfter mal weg. Sie die ganze Zeit vor den Augen zu haben, muss für Lotta so anstrengend sein wie laute Musik, die den ganzen Tag läuft.
Frau Schmidt nimmt den Pandabär. Lottas Augen wandern darüber. Sie gleiten nach oben und kommen wieder zurück. »Ja, schau mal!«, sagt Frau Schmidt. »Hier ist der Bär.« Erstes Ziel ist es, »visuelle Aufmerksamkeit« zu schaffen. Lotta soll lernen, ihre Augen länger still zu halten. Fixieren heißt die nächste Stufe. »Toll macht sie das, oder?«, frage ich Frau Schmidt.
»Sie machen das toll«, sagt sie.
Manche Therapeuten kümmern sich am Anfang fast ebenso viel um mich wie um Lotta. Bin ich jetzt auch ein »Fall«? Stimmt es, was mir eine Ärztin sagt? »Frühförderung bringt nichts,
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